[Die gesteigerte Suggestibilität der Masse. Paniken im Krieg und an der Börse. Massenverbrechen. Die Masse als Stimmvieh, als Theaterpublikum.]


Die erwähnten Umstände haben sämtlich die Eigenschaft, daß sie die Suggestibilität, i. e. die Disposition zur kritiklosen Annahme von Vorstellungen steigern. Die Masse ist daher als solche für Eingebungen empfänglicher, als es der Durchschnittssuggestibilität der sie bildenden Individuen entspricht. Die Steigerung der Suggestibilität der Masse ist zwar, wie ich a. O.1) gezeigt habe, keine allgemeine, sondern auf gewisse Arten von Eingebungen beschränkt, für welche Charakter und Bildung der zusammengescharten Individuen und der Zweck der Vereinigung derselben bestimmend sind. Gerade diese elektive Natur der Suggestibilitätssteigerung bedingt es aber häufig, daß die Masse in ihrem Handeln durch törichte, gefährliche, selbst verbrecherische Suggestionen bestimmt wird. Man denke z. B. an einen Volksauflauf, der durch die Verhaftung einiger Radaubrüder veranlaßt wird. Diese widersetzen sich den Schutzleuten und finden dabei Unterstützung durch Kameraden. In der durch den Vorfall angezogenen Menge werden Stimmen laut, die zur Ruhe und Unterstützung der ihres Amtes waltenden Sicherheitsorgane mahnen; diese verhallen jedoch ungehört, während Äußerungen, welche zu Tätlichkeiten gegen die Schutzleute auffordern, Beifall finden. Es bedarf schließlich nur einiger besonders lauter, ermunternder Zurufe, und die Menge stürzt sich auf die Polizeiorgane, mißhandelt dieselben und entreißt ihnen die Gefangenen.

Wie hier, so sehen wir auch sonst häufig genug, daß in der Masse vernünftige Eingebungen keinen Boden finden, während die Empfänglichkeit für törichte Hetzereien sehr entwickelt ist. Die Dummheit der Massen äußert sich in verschiedenen Formen, wobei Begabung und Gesittung der Elemente, welche dieselben zusammensetzen, die Zwecke und die Örtlichkeit der Vereinigung und insbesondere das emotionelle Verhalten der Masse eine Rolle spielen. Am gräßlichsten und verheerendsten kommt sie in den Paniken zum Ausdruck, deren Macht Gebildete wie Ungebildete in fast gleicher Weise unterliegen. Die Panik in gewöhnlichen Sinne wird durch die plötzlich auftauchende Idee einer Lebensgefahr hervorgerufen und charakterisiert sich als ein die Masse ergreifender Affekt höchster Angst, der dem Einzelnen die Besinnung mehr oder weniger raubt. Bei Paniken, die durch Theaterbrände verursacht wurden, hat man beobachtet, daß die Menschen, die sich bei besonnenem Vorgehen zum größten Teil durch die vorhandenen Ausgänge hätten retten können, in ihrer Angst in sinnloser Weise gegen einzelne Ausgänge sich drängten und dort zu einem Knäuel zusammengeballt, sich selbst den Weg zur Rettung versperrten. Bei der Panik, welche die große Feuersbrunst in Chicago im Jahre 1871 verursachte, kam es, wie man mir berichtete, verschiedenfach vor, daß Personen den wertvollsten Teil ihrer Habe zurückließen und mit schweren Gegenständen von geringem Wert weite Strecken forteilten. Paniken werden im Krieg nicht lediglich durch tatsächliche, plötzlich eintretende, sondern mitunter auch durch rein eingebildete Gefahren verursacht, indem z. B. eine durch eine aufgescheuchte Viehherde aufgewirbelte Staubwolke auf eine feindliche Abteilung bezogen wird. Die von der Angst ergriffenen Truppen versuchen zumeist um jeden Preis ihr Leben zu retten, werfen deshalb alles die Fortbewegung Erschwerende (Waffen, Gepäck) von sich und trachten nur, sich möglichst weit und eilig von dem bedrohenden Feind zu entfernen. Es kommt aber auch vor, daß die Panik eine völlig lähmende Wirkung auf das Denkvermögen der von ihr Befallenen ausübt und dieselben außerstande setzt, irgend einen Versuch zur Flucht oder Abwehr zu machen. So wird berichtet, daß in dem abessinischen Feldzug italienische Truppen, die beim Anrücken des Feindes von einer Panik ergriffen wurden, trotz verzweifelter Vorstellungen und Bitten ihrer Offiziere die Waffen wegwarfen und sich ohne den Versuch eines Widerstandes von dem schonungslosen Feind abschlachten ließen. An den Börsen bewirken mitunter Nachrichten von schwerwiegenden politischen oder wirtschaftlichen Ereignissen, gelegentlich auch schon bloße Gerüchte Epidemien maßloser Aufregung und Kopflosigkeit, welche die Befallenen veranlassen, auch ganz sichere Werte mit den größten Verlusten loszuschlagen und dadurch ihr Vermögen zu verschleudern.

Leidenschaftliche Erregungen, insbesondere Erbitterung und Rachsucht gegen einzelne Personen, können die Masse ebenfalls zu einem Handeln veranlassen, durch welches ihre eigenen Interessen schwer geschädigt werden. So ist es bekanntlich schon oft vorgekommen, daß streikende Arbeiter, wenn die Aussichten auf Erfüllung ihrer Forderungen schwanden, die Fabriken, in welchen sie beschäftigt waren, demolierten oder wenigstens Versuche in dieser Richtung unternahmen. Bei den agrarischen Unruhen in Rußland und Rumänien wurden von aufrührerischen Bauern die Pachthöfe, die sie bewirtschaftet hatten, verwüstet.

Bei den von den Massen verübten Greueln, über welche uns die Geschichte und die Zeitungen unserer Tage berichten, so insbesondere bei den Progromen in Rußland, tritt uns überall neben der Roheit und Grausamkeit auch die Dummheit der Masse entgegen, die sich in gleich sinnlosem Wüten gegen Personen wie gegen Eigentum äußert.

In den konstitutionellen Staaten geben die Wahlen den Massen reichliche Gelegenheit, ihre intellektuelle Inferiorität zu betätigen. Die Wahlen verschaffen auch der Dummheit der Massen einen ungeheueren Einfluß auf die Staatsangelegenheiten. Bei den an Wahlversammlungen Beteiligten, wie den zur Urne schreitenden Individuen macht sich natürlich deren intellektuelle Qualität geltend. Je tiefer letztere steht, um so leichter wird die Masse durch gewisse Parteischlagworte gefangen und betört und um so geringere Ansprüche stellt sie an Intelligenz und Bildung ihres Vertreters.

Auch bei dem Theaterpublikum gibt sich die intellektuelle Qualität der Masse oft recht deutlich kund. Der ernste und kritisch angelegte Geist läßt, wenn er in das Theater geht, einen Teil seiner Urteilsfähigkeit zu Hause. Er will sich amüsieren und spendet den seilten Witzen einer Posse, die ihn unter anderen Verhältnissen anwidern würden, Beifall wie der naivste Zuhörer und trägt durch sein Verhalten dazu bei, daß wertlose Stücke sich im Repertoire erhalten, während gehaltvolle aus demselben verschwinden.

 

_________________

1) L. Loewenfeld: Der Hypnotismus, Handbuch der Lehre von der Hypnose und der Suggestion, S. 470 und f.


 © textlog.de 2004 • 20.05.2024 03:29:24 •
Seite zuletzt aktualisiert: 09.12.2009 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright