Schlußbemerkungen.


Wir sind am Schlusse unserer, wenn auch etwas flüchtigen, doch nicht ganz mühelosen Umschau angelangt. Wir haben dabei unsere Blicke in die Vergangenheit wie in die Zukunft schweifen lassen und nichts entdeckt, was uns zu besonderem Stolze auf den derzeitigen Stand unserer Kultur und Intelligenz berechtigen könnte. Im geistigen Leben der Völker begegnen wir ähnlichen Entwicklungsschwankungen, wie in dem der Individuen: Frühreife auf der einen Seite und auffälliges Zurückbleiben auf der anderen. Unter den Völkern des Altertums wiesen die Griechen und Römer einen Zustand geistiger Frühreife auf, der, wie so oft bei den Individuen, sich nicht mit öen Bedingungen einer längeren Lebensdauer verknüpfte. Der Prozeß geistiger Frühreife hat sich bei keinem der europäischen Völker der Gegenwart wiederholt. Die Geisteskultur, die wir bei denselben finden, ist das Produkt einer Evolution, die sich nur sehr allmählich vollzog, und vielleicht liegt hierin eine Bürgschaft gegen einen Rückfall in Barbarei. Wenn wir die intellektuelle Entwicklung des Menschen vom Urmenschen bis zum homo sapiens und von diesem bis zum Kulturmenschen der Gegenwart, soweit dies möglich ist, verfolgen, läßt sich kein Grund für die Annahme finden, daß die Geisteskräfte des Menschen einer weiteren Steigerung nicht fähig wären. Dieses Wachsen der Geisteskräfte vollzieht sich jedoch nach den Erfahrungen, welche uns die Vergangenheit andie Hand gibt, ungemein langsam. Die wenigen Jahrtausende menschlicher Geschichte, auf die wir zurückblicken können, verschwinden beinahe gegenüber den ungeheuren Zeiträumen, welche die prähistorische Entwicklung des Menschen in Anspruch nahm. Auf Maßnahmen irgendwelcher Art, welche die Zunahme der menschlichen Geisteskräfte beschleunigen könnten, ist nicht zu rechnen. Wenn wir trotzdem einen intellektuellen Fortschritt unserer Bevölkerung in nicht zu ferner Zukunft für möglich halten, so stützt sich diese Annahme auf den Umstand, daß die bisherigen Lebensverhältnisse die Massen nicht in den Stand setzten, ihre geistigen Fähigkeiten voll und ganz zu entfalten und auszunützen. Wir haben die Mittel und Wege kurz angedeutet, welche geeignet sind, diesen Mißstand zu beseitigen; doch geben wir uns noch keineswegs der Illusion hin, daß damit schon in Bälde viel erreicht werden wird. Zur Zeit, und jedenfalls noch für eine längere Reihe von Jahren sind die verschiedenen Veranstaltungen zur Hebung der Volksbildung noch nicht so zahlreich und zweckmäßig organisiert, daß sie überall in Stadt und Land eine genügende Wirksamkeit auf die Bevölkerungskreise -ausüben könnten, für welche sie bestimmt sind. Aber auch die Benützung der bereits vorhandenen Anstalten läßt noch zu wünschen übrig. Zweifellos macht sich auch in den Arbeiterkreisen schon seit Jahren ein gewisses Bildungsbedürfnis geltend. Allein es ist gegenwärtig weder so verbreitet, noch so lebhaft, daß man davon schon große Erfolge erwarten könnte. In neuerer Zeit haben sich insbesondere zwei Momente der Ausbreitung und Verstärkung des Bildungsverlangens in der Arbeiterschaft hinderlich erwiesen, da sie die Gedankenwelt eines sehr großen Teiles der Angehörigen dieser Klasse beherrschen: das Strebennach Verbesserung ihrer materiellen Lage und nach Mehrung ihrer politischen Macht, wovon ebenfalls materielle Vorteile erwartet werden. Da die in dieser Richtung von den Arbeitern bisher erzielten Ergebnisse keine Hebung der Volksbildung erheischten, ist es begreiflich, daß die Bestrebungen der Massen mehr auf die ihnen unmittelbar Vorteile verheißenden Gebiete als den Erwerb weiterer Bildung gerichtet sind. Vorerst kann es daher als ausgeschlossen erachtet werden, daß es gelingen wird, durch die zurzeit vorhandenen und in Aussicht stehenden Veranstaltungen der Gesamtheit der arbeitenden Klasse (die Landbevölkerung eingeschlossen) eine einigermaßen gleichmäßige, wenn auch nur sehr oberflächliche Bildungstünche beizubringen. Die Unzulänglichkeit der Mittel auf der einen Seite und der in weiten Kreisen noch bestehende Mangel an Interesse für Bildungsbestrebungen irgendwelcher Art lassen nichts anderes erwarten. Es wäre aber ganz und gar ungerechtfertigt, deshalb den Wert der derzeitigen Volksbildungsarbeit gering zu schätzen. Die vorhandenen Bildungsgelegenheiten werden nicht verfehlen, auf die intelligenteren und geistig regsameren Elemente in der werktätigen Bevölkerung in zunehmender Weise ihre Anziehungskraft auszuüben, um deren intellektuelle Leistungsfähigkeit und Empfänglichkeit für ideelle Genüsse zu fördern. Die Zahl dieser geistig über dem Durchschnitt der Masse stehenden Elemente wird, wenn auch vielleicht nicht sehr rasch, doch sicher von Jahr zu Jahr sich mehren und nicht nur dazu führen, daß die Kluft zwischen den Gebildeten und Bildungsbedürftigen allmählich überbrückt wird. Viel wichtiger ist, daß diese Intellektuellen unter den Arbeitern eine führende Rolle in ihren Kreisen erlangen und durch ihren Einfluß auch die nur durchschnittlich oder weniger begabtenund geistig minder beweglichen Elemente für die Vorteile einer Bildungsmehrung zugängig machen, d. h. auch bei ihnen ein gewisses Bildungsbedürfnis wecken. Erst dann, wenn dies erreicht ist, kann an eine Hebung des geistigen Niveaus der großen Massen gedacht werden; eine gleichmäßige Bildung aller Bevölkerungselemente bleibt aber auch dann noch unerreichbar, da einer solchen schon die Unterschiede in der Begabung der Einzelindividuen entgegenstehen.

Die Aufgaben, deren Lösung der Volksbildungsarbeit zufällt, sind, wie wir nicht verkennen dürfen, ebenso schwierig als umfassend und dabei von größter Bedeutung für die materielle und geistige Wohlfahrt des Volksganzen. Für die materielle Wohlfahrt, da der Wiederaufbau unseres durch den Weltkrieg dem völligen Ruin nahe gebrachten Wirtschaftslebens nicht ohne Steigerung unserer Produktion in quantitativer und qualitativer Hinsicht sich ermöglichen läßt und in beiden Richtungen die Zahl der geistig regsameren urteilsfähigen Elemente unter der Arbeiterschaft von größtem Belang ist.

Für die geistige Wohlfahrt unserer Nation bildet die derzeitige Zerrissenheit unseres Volkskörpers, die immer tiefer gehende und bedenklichere Spaltung in politische und wirtschaftliche Parteien, sowie in lediglich Sonderinteressen verfolgende Organisationen und Gruppen ein wesentliches Hindernis. Dieser überall sich hervordrängenden um das Volksganze unbekümmerten Selbstsucht kann nur durch Weckung und Stärkung des Bewußtseins der nationalen Einheit, der Zusammengehörigkeit aller Stämme, Stände und Berufe, der Interessengemeinschaft aller Volksklassen mit Erfolg entgegengewirkt werden. Die Volksbildungsarbeit und insbesondere die Tätigkeit der Volkshochschulen ist auch in dieser Richtung wirksam und wirdso dazu beitragen, dem nationalen Leben eine Gestaltung zu geben, die es allen Volksgenossen ermöglicht, sich als Bürger eines Staates mit gleichen Rechten und Pflichten zu fühlen und an dessen Kulturgütern teilzunehmen, womit auch die Liebe zum gemeinsamen Vaterlande wieder erstarken und sich ausbreiten kann. Soll dieses hohe Ziel erreicht werden, so ist es aber nötig, daß die Gebildeten und Besitzenden in Betätigung vaterländischer Gesinnung den Massen vorangehen und durch ihr Beispiel auf diese wirken. Zu den Pflichten, die ihnen aus dieser Sachlage erwachsen, zählt für alle hierzu Befähigten die aktive Teilnahme an der Volksbildungsarbeit und deren materielle Unterstützung seitens der Begüterten.

 

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*) Zusatz: Ich habe an früheren Stellen bereits die Einwände angeführt, die sich gegen das an den Volkshochschulen bestehende z. T. auch nur geplante Unterrichtssystem geltend machen lassen. Der betreffende Teil meines Manuskripts war schon im September 1920 abgeschlossen. Inzwischen sind jedoch Stimmen laut geworden, welche nicht bloß einzelne Änderungen, sondern eine förmliche Umgestaltung unseres Volkshochschulwesens für nötig erachten. So bemerkte Dr. Robert von Erdberg (Berlin) in einem im Januar lfd. Jrs. in München gehaltenen Vortrage, daß die Volkshochschulbewegung stark abgenommen habe, weil man zu der Einsicht gelangt sei, daß die Art der Darbietung des Wissensstoffes, d. h. das Unterrichtssystem an den Volkshochschulen den gehegten Erwartungen nicht entspricht. Der Redner glaubt, daß dem vorhandenen Bildungsbedürfnisse durch Errichtung von Arbeitsgemeinschaften mit Untergruppen, die erzieherische Arbeit zu leisten haben, besser gedient werde. Dieser Vorschlag läuft im Wesentlichen auf das Seminarsystem hinaus, das in gewissem Umfange bereits an den Volkshochschulen besteht, und von dem erzieherische Leistungen kaum erwartet werden können. Solche sind nur an den ländlichen Anstalten mit Internaten möglich, nicht aber an den städtischen Volkshochschulen oder ähnlichen Anstalten, an welchen den Lehrenden alle erzieherischen Mittel, wie die Einwirkung auf die Schüler durch ihr eigenes Beispiel, persönliche Anleitung und Unterweisung, Lob, Tadel usw. mangeln.

Meines Erachtens ist es zwar sehr bedauerlich aber nicht zu ändern, daß unserem Volk die Erziehung, deren es noch sehr bedürfte, nicht zuteil werden kann. Unser Volk ist als Ganzes in der Lage eines Kindes, dem die häusliche Erziehung fehlt und das für seine intellektuelle und moralische Entwickelung auf die Förderung angewiesen ist, die ihm durch die Schule zuteil wird. Wir müssen uns daher damit begnügen, das Erreichbare anzustreben, d. h. durch Mehrung und Verbesserung aller auf die Bildung des Volkes abzielenden Einrichtungen in seinem intellektuellen und sittlichen Verhalten allmählich Änderungen herbeizuführen, die in gewissem Maße wenigstens die Wirkung der Erziehung ersetzen können.


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