[Die Dummheit in der Schauspielkunst. Die verschiedenen Mängel der Darstellung. Die Schnitzer der Regie und Direktion. Die willkürliche Veränderung von Stücken. Dramaturgische Dummheiten. Sydows Bearbeitung von Goethes Faust.]


Was man endlich in der Schauspielkunst an Dummheiten leisten kann, hierfür liefern die Aufführungen mancher sogenannter Schmieren drastische Belege. Aber auch an besseren Theatern mangelt es, wie aus den Zeitungskritiken zu ersehen ist, nicht an derartigen Vorkommnissen. Der Schauspielerberuf stellt sehr hohe Anforderungen an die Urteilsfähigkeit des Individuums und bietet daher auch besondere Gelegenheit zur Bekundung von Urteilsschwäche. Der Schauspieler soll in der Lage sein, seine Rolle in dem Sinne, der dem Dichter vorschwebte, aufzufassen und für seine Aufgabe die richtigen Ausdrucksmittel zu finden. Fehlt ihm hierfür die Begabung, so gelangt er zu unrichtiger, selbst vollkommen verkehrter Interpretation seiner Rolle und zur Wahl unpassender Ausdrucksmittel. Er übertreibt in Mimik, Ton und Bewegung, ergeht sich in hohlem Pathos, wo eine natürliche Sprechweise am Platze wäre, und leiert die eindrucksvollsten Stellen verständnislos herunter. Zu den Dummheiten, welche die einzelnen Darsteller bei der Durchführung ihrer Rollen präsentieren, kommen bei kleineren Bühnen häufig solche der Direktoren und Regisseure, die Verhunzungen von Stücken durch Streichungen, Kürzungen und selbst ganz willkürliche Textveränderungen1), durch welche man dem Geschmack des Publikums Rechnung tragen will. Die Lächerlichkeiten der Ausstattung und Inszenierung, mit denen man bei unzulänglichen Mitteln einen möglichst glänzenden Effekt zu erzielen versucht, gehören gleichfalls in diese Kategorie.

Was hier zuletzt erwähnt wurde, gehört schon in das Gebiet der Dramaturgie, auf dem auch an den Werken unserer großen Dichter von Unberufenen manches gesündigt wird. Das Kühnste und zugleich Lächerlichste, was auf diesem Gebiet neuerdings geleistet wurde, hat A. Sydow mit seiner Bearbeitung von Goethes "Faust" für die Bühne zuwege gebracht. Der Raum gestattet es uns nicht, auf die kleineren zum Teil köstlichen Details einzugehen, durch welche der Autor Goethes Werk "verbessert" hat. Zur Charakterisierung des Geistes dieser Leistung genügt es, die von dem Autor vorgenommene Änderung und Ergänzung der Schlußszene des ersten Teiles anzuführen, durch welche der zweite Teil überflüssig gemacht werden soll.

Nach den Worten "Heinrich, mir graut vor Dir!", auf welche im Texte Mephistopheles bemerkt: "sie ist gerichtet!", entfernt sich in der Bearbeitung Gretchen nach rechts, wobei sie dem Gerichtsdiener in die Hände läuft. Als Faust ihr nacheilt, ruft ihm Mephisto zu: "Her zu mir!", worauf Faust repliziert: "Teufel, Tier!". Mit der Gefängniswache bringt der Bearbeiter nun eine neue Figur auf die Szene, den Kommandanten der Wache.

Dieser spricht:

"Wer lärmet hier?

Ach, unser Heinrich!",

(Auf seinen Wink wird Faust gefesselt.)

"Halt, Bursche", fährt er fort, "kommst grad bei Zeiten,

Mit Gretchen zum Schaffot zu schreiten,

Dort wartet Deiner lange schon

Derselbe Henker, der gleiche Lohn".

(Faust wird abgeführt.)

Das Schlußwort gehört Mephisto, der sich in folgenden Betrachtungen ergeht:

"Wie eilt die Zeit so schnell vorbei!

Gleich wird das Sünderglöcklein schallen,

Die Uhr wird stehn, der Zeiger fallen,

Und ich bin meines Dienstes frei".

            (Hinter der Szene ertönt das Armensünderglöckchen.)

"O Fauste, welch ein feiner Tausch

War doch ein kurzer Wonnerausch,

Des Lebens bist Du ledig,

Ob Gott der Seele gnädig?"

Man mag sich mit Recht fragen, wie ein derartiger, wenn auch nicht direkt beabsichtigter, literarischer Vandalismus seitens eines gebildeten Mannes zu erklären ist. Denn jedem nur halbwegs Gebildeten muß ein Werk wie Goethes "Faust" ein Maß von Verehrung für den Dichter einflößen, das in ihm die Idee einer Veränderung oder Verbesserung des Stückes nicht aufkommen läßt. Eine solche kann nur bei einem Menschen entstehen, der durch einen höheren Grad von Urteilsschwäche außerstand gesetzt ist, die Größe der Goetheschen Schöpfung als Ganzes auch nur einigermaßen zu erfassen und den poetischen Gehalt jedes einzelnen der von dem Dichter so kunstvoll zusammengewobenen, unendlich vielen Details zu würdigen. Zu dieser Urteilsschwäche muß sich bei dem Autor noch die Eitelkeit gesellt haben, alle bisherigen Faustbearbeiter durch Kühnheit und Gründlichkeit zu überbieten, und dies ist ihm auch gelungen.

 

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1) So kommt es z. B. vor, daß man in Schillers "Räubern" Karl Moor Amalie heiraten und den alten Grafen vergnügt weiter leben läßt, um dem Geschmack des Publikums Rechnung zu tragen.


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