[Die Frage des Nutzens größerer Volksbildung. Bedeutung derselben für die nationale Wohlfahrt. Die der Hebung des intellektuellen Niveaus der Massen dienenden Maßnahmen.]


Neben dem Angeführten haben wir zu berücksichtigen, daß wir trotz der Ausdehnung, welche die der Volksbildung dienenden Maßnahmen und Einrichtungen im verflossenen Jahrhundert erfahren haben, über die ersten Anfänge in der großen Arbeit doch nicht hinausgekommen sind, welche die Ausbildung der in der Masse vorhandenen Fähigkeiten und damit eine wirksame Bekämpfung der Dummheit erheischt. In den staatlichen Institutionen, den Gesetzen und Gebräuchen, der äußeren Lebensführung, auch im Handel und in der Industrie eines Volkes können, wie uns Japan zeigt, in wenigen Dezennien gewaltige Veränderungen in der Richtung des Fortschritts herbeigeführt werden. Die Hebung der intellektuellen Leistungsfähigkeit eines Volkes, die Erweiterung seines geistigen Horizontes, die Beseitigung von altersher überkommener irrtümlicher und abergläubischer Vorstellungen erheischt dagegen viel längere Zeiträume und das Zusammenwirken einer großen Reihe günstiger Faktoren.

Bevor wir uns mit diesen beschäftigen, können wir die Frage, die manchen seltsam anmuten mag, nicht ganz unberührt lassen, ob denn der Kampf gegen die Dummheit dem Volkswohl auch wirklich dient. Erasmus von Rotterdam hat in seiner Schrift "Eucomium moriae" (das Lob der Torheit) sich bemüht, zu zeigen, daß alles Glück auf Erden lediglich der Torheit zuzuschreiben sei, die Weisheit dagegen nur Ungemach im Gefolge habe.*) Die scherzhaften, zum Teil recht bissigen, aber auch durch ihre Weitschweifigkeit ermüdenden Ausführungen des gelehrten Autors enthalten ein Körnchen Wahrheit. Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Beschränktheit die Menschen mit ihrem Los zufriedener macht und ihnen sogar ein Glücksgefühl ermöglicht, welches ihnen bei höherer Begabung bei sonst gleichen Verhältnissen fehlen würde. Der Beschränkte verzichtet vielfach wegen seiner mangelhaften Begabung auf höhere Ziele und Genüsse, bescheidet sich mit einer untergeordneten Stellung, die einen sicheren Boden verschafft, und fühlt sich dabei behaglich. Der beschränkte arme Teufel ist auch weniger in der Lage, infolge der Einengung seines geistigen Horizontes die Kümmerlichkeit seiner Existenz durch Vergleich mit dem Los Anderer sich zum Bewußtsein zu bringen. Er ist auch leichter imstande, sich durch Trostgründe, welche die Religion bietet, über die Misere seines Daseins zu beruhigen, zumal das Christentum den Armen im Geiste die ewige Seligkeit für ihr Defizit in diesem Leben in Aussicht stellt. Der begüterte Beschränkte andererseits begnügt sich mit den materiellen Genüssen, welche seine Verhältnisse ihm gestatten, und erfreut sich seines Besitzes täglich von neuem, in dem Gedanken, daß ihm ein besseres Los beschieden ist, als vielen anderen. Der Intelligente lädt sich dagegen Sorgen und Mühen auf, um seine materielle Existenz möglichst günstig zu gestalten, zum Teil aber auch nur um rein ideelle Vorteile zu erlangen. Zufriedenheit findet sich selten in seinen Kreisen, Glücksgefühl noch seltener.

Die Ansicht, welche Erasmus von Rotterdam in satirischem Sinne vertrat, hat gegenwärtig in konservativen und klerikalen Kreisen noch zahlreiche Anhänger. Wenn man auch die Angehörigen der unteren Volksklassen nicht ohne jeglichen Unterricht aufwachsen lassen will, so hält man doch alle die Bestrebungen, welche darauf abzielen, Aufklärung unter den Massen zu verbreiten, nicht nur für unnütz, sondern geradezu für schädlich. Man glaubt, daß das Volk hierdurch unzufrieden mit seinem Los gemacht, der Festigkeit seines Glaubens beraubt und dem Sozialismus in die Arme getrieben wird. Es ist ja auch nicht zu leugnen, daß der aufgeklärte Arbeiter weniger geneigt ist, um kümmerlichen Lohn sein Tagewerk zu verrichten und das wirtschaftliche System, welches ihm nur ein armseliges Auskommen gewährt, als die von Gott gewollte Ordnung anzusehen, und auch das aufgeklärte Bäuerlein ist weniger bereit, sich als gefügiges Werkzeug in den Händen des Klerus bei Wahlen und anderen Gelegenheiten gebrauchen zu lassen. Die hier erwähnte Auffassung geht zumeist nicht von höheren Gesichtspunkten, sondern von egoistischen Motiven aus. Während man das Volkswohl vorschützt, verfolgt man persönliche Interessen, mit welchen die Aufklärung der Massen schlecht vereinbar ist. Die unbefangen Urteilenden in allen Kreisen haben trotz der nicht ganz zu bestreitenden Vorteile, welche die Beschränktheit in gewissen Beziehungen mit sich bringt, seit langem schon eingesehen, daß dem Wohle des Volkes und des Staates nicht damit gedient ist, daß man die Massen in geistiger Stagnation beläßt.

In dem Wettkampf der Nationen auf industriellem Gebiet spielt die Intelligenz des Arbeiters eine wichtige Rolle. Die Land- und Forstwirtschaft bedürfen, wenn sie dem Grundeigentümer befriedigende Erträge liefern sollen, eines rationellen Betriebes, der nur durch Kenntnisse und eine gewisse Intelligenz des Landwirtes ermöglicht wird. auch für die Volksgesundheit ist die Intelligenz der Massen von keiner geringen Bedeutung. Die Verhütung und Bekämpfung von Seuchen ist in den Ländern, deren Bevölkerung geistig zurückgeblieben ist, ungleich schwieriger als in Gebieten, in welchen die Massen auf einem günstigeren intellektuellen Niveau sich befinden1).

Daß auch auf politischem Gebiet das intellektuelle Verhalten der großen Massen des Volkes von weittragender Bedeutung ist, haben wir, soweit die Wahlen in Betracht kommen, bereits gesehen. Aber die Wahlen sind nicht die einzige Gelegenheit, bei der sich die geistige Verfassung der Massen kundgibt. Je niedriger der geistige Standard einer Masse ist, um so leichter ist sie den verführerischen Suggestionen gewissenloser, verblendeter und selbst verbrecherischer Demagogen zugänglich und wir haben, von Rußland ganz abzusehen, von den traurigen Folgen eines derartigen Mißstandes auch in Deutschland in jüngster Zeit mehr erlebt, als man früher bei der Kultur unseres Volkes für möglich gehalten hätte.

Aus den angeführten Umständen dürfte sich zur Genüge ergeben, daß der Kampf gegen die Dummheit durch eine Forderung der Staatsraison ebensowohl als der sozialen Fürsorge für die wirtschaftlich Schwächeren geboten ist.

 

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Der Kampf gegen die Dummheit erheischt eine Reihe von Maßnahmen, die dem Gebiet der Hygiene, des Volksbildungswesens, der Politik und der Volkswirtschaft angehören, deren eingehende Würdigung in dem Rahmen dieses Buches nicht erfolgen kann. Wir müssen uns hier auf kurze Berührung der wichtigsten Punkte beschränken, jener Punkte, welche die Richtlinien für die in Betracht kommenden Bestrebungen andeuten.

 

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1) Es ist z. B. in Rußland in den östlichen Gouvernements vorgekommen, daß das Volk bei Choleraepidemien die Ärzte als Verbreiter der Krankheit mit dem Tode bedrohte, so daß diese nur durch schleunige Flucht ihr Leben retten konnten. Ein russischer Kollege, der mich vor Jahren konsultierte, war ein Opfer dieses Volkswahns geworden; er mußte, um sich in Sicherheit zu bringen, mehrere Tage lang zu Fuß mit Aufbietung aller seiner Kräfte fliehen, was für ihn ein schweres Nervenleiden zur Folge hatte.

*) Zusatz: Das Glück der Dummheit hat auch Voltaire in der ihm eigenen satirischen Weise in einer kleinen Erzählung "l'histoire d'un bon Brahmin" behandelt. Ein sehr gelehrter und reicher indischer Brahmine wohnte in einem prächtigen Hause, in dessen Nähe sich die Hütte einer armen, alten und geistesschwachen Frau befand. Der Brahmine fühlte sich trotz seiner glänzenden äußeren Verhältnisse höchst unglücklich, weil die Ergebnisse seines 40 jährigen philosophischen Grübelns ihm nichtig erschienen und er auf all die an ihn gerichteten Fragen über die Welt- und Lebensrätsel keine bestimmte Antwort zu geben wußte. Das alte Weib, das in seiner Nähe wohnte, hatte nie über eine der Fragen, mit welchen der Brahmine sich ständig abquälte, auch nur einen Augenblick nachgedacht. Sie glaubte von ganzem Herzen an die Verwandlungen des Wischnu, und wenn sie zuweilen etwas Gangeswasser zu Waschungen erhalten konnte, hielt sie sich für die glücklichste Frau der Welt. Als der Brahmine auf die Zufriedenheit seiner armen Nachbarin mit ihrer Lage und die Unbegründetheit seiner Verstimmung hingewiesen wurde, bemerkte er: „Ich habe mir schon tausendmal gesagt, daß ich glücklich sein könnte, wenn ich so dumm wäre, wie meine Nachbarin, und doch verzichte ich auf ein solches Glück".


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