[Die Modetorheiten. Die epidemische Verbreitung törichter Vorstellungen.]


Zu den am häufigsten wiederkehrenden Massentorheiten gibt die Mode den Anstoß. Man darf nur die Modebilder aus den ersten Dezennien des verflossenen Jahrhunderts betrachten, um zu sehen, welche Geschmacklosigkeiten in der Toilette beider Geschlechter Verbreitung fanden, weil es eben Mode war. Die Damen der Gegenwart würden sich wohl entsetzen, wenn man ihnen zumuten wollte, sich der Krinoline wieder zu bedienen, die zu tragen auch die verständigsten Vertreterinnen des zarten Geschlechts in den 60er Jahren keinen Anstand nahmen, nachdem die Kaiserin Eugenie es für gut gefunden hatte, durch dieses Toilettenstück während einer Schwangerschaft ihren körperlichen Zustand den Blicken der Außenwelt zu entziehen. Gegenwärtig verurteilt die Mode die Damen zu der Dummheit, auf Taschen in den Kleidern zu verzichten, deren sie ebensogut wie das starke Geschlecht bedürfen. Obwohl das Unvernünftige und Lästige dieser Mode erkannt wird, sehen wir jedoch nur selten, daß man deren Annahme ablehnt.

Auch die Kreise der Gebildetsten erweisen sich für die Ansteckung durch Torheiten zuweilen recht zugänglich. Hierfür ein Beispiel. Als einige deutsche Zeitungen den Prozeß Bülow-Brand zum Anlaß genommen hatten, sich über die Homosexuellen zu entrüsten und sie zu verunglimpfen, äußerte dieses Vorgehen alsbald eine ansteckende Wirkung auf eine sehr große Anzahl von Zeitungen der verschiedensten Parteirichtungen. Auch diese säumten nicht, die Schale ihres Zornes über die armen Homosexuellen zu ergießen und sich in Schmähungen derselben förmlich zu überbieten. Was dabei an unsinnigen Behauptungen selbst von im allgemeinen gut redigierten Zeitungen geleistet wurde, ist geradezu erstaunlich, und ich möchte glauben, daß manche der betreffenden Redakteure heute die Auslassungen über die Homosexuellen sehr befremdlich finden werden, zu denen sie sich damals ohne Bedenken verstiegen.

Wie die Gehässigkeit, wirkt auch oft die übertriebene Wertschätzung einzelner Persönlichkeiten ansteckend, und die Begeisterung für Berühmtheiten äußert sich nicht selten in komisch wirkenden Formen. Hierher gehört der Kultus, der berühmten Sängern und Schauspielern, insbesondere von weiblicher Seite entgegengebracht wird, die Begeisterung für Tänzerinnen auf männlicher Seite, die sich mitunter bis zu der grotesken Ovation des Pferdeausspannens versteigt. Die Begeisterung für den amerikanischen Seehelden Hobson hat die sonst auf ihre Würde so sehr bedachten amerikanischen Ladies zu einem ganz unerhörten Bruche mit der Konvention fortgerissen. Leutnant Hobson hat während des spanisch-amerikanischen Krieges sein Schiff in die Luft gesprengt, um der spanischen Flotte das Auslaufen aus dem Hafen von Santiago unmöglich zu machen, und hielt nach Beendigung des Krieges in einer Reihe von amerikanischen Städten Vorträge über seine kühne Tat. Nach einem dieser Vorträge fühlte sich eine Dame von Begeisterung für Leutnant Hobson so hingerissen, daß sie sich nicht enthalten konnte, ihn zu küssen, und dem gegebenen Beispiele folgten alle anwesenden Damen. Auch in den darauffolgenden Vorträgen hielten die Damen mit dem Küssen nicht zurück. In den Fällen, in welchen politische oder religiöse Leidenschaften oder Neigungen im Spiel sind, finden die törichtsten Vorstellungen in den Massen leicht Eingang. So verbreitete sich in dem französischen Volk nach dem Krieg 1870—71 die von irgend einer Seite angeregte Vorstellung epidemisch, die Waffenerfolge der Deutschen seien nur durch Verrat ermöglicht worden, und Marschall Bazaine wurde ein Opfer dieser sinnlosen Annahme. Nach der Besetzung Roms durch die italienischen Truppen fanden gewisse klerikale Kreise es angezeigt, die Mär zu verbreiten, der Papst werde in einer Art Kerker gefangen gehalten, und es fehlte nicht an Blättern, welche den Kerker mit dem Strohlager ihren Lesern bildlich veranschaulichten. Diese Mär fand trotz ihrer außerordentlichen Albernheit insbesondere unter dem katholischen Landvolk sehr zahlreiche Gläubige und hat sich eine Reihe von Jahren hindurch behauptet1).

 

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1) Hier verdient noch der Umstand Erwähnung, daß es im verflossenen Jahrhundert mehrfach religiös Verrückten gelang, psychisch-religiöse Epidemien hervorzurufen und ihre Anhänger zu den schlimmsten Torheiten inbezug auf ihre materielle Lage zu verleiten. So brachte der Geisteskranke William Miller im Staate New-York (1840) durch seine Prophezeiung vom bevorstehenden Weltuntergange seine Anhänger (die Milleriten) dahin, daß sie ihre Geschäfte aufgaben und ihre Familien dem Elend überließen. Ähnlich haben in Rußland die Anhänger des an mania religiosa leidenden Maljövanni mit Rücksicht auf den von letzterem prophezeiten Weltuntergang ihre Arbeit aufgegeben und ihr Eigentum verkauft oder verschenkt. Vergl. Loewenfeld, Hypnotismus Seite 480 u. f.


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