[Die intellektuellen Mängel bei gut, selbst hervorragend Begabten.]


Wenn wir uns nunmehr fragen, welche intellektuellen Mängel sich andrerseits bei im allgemeinen gut oder sogar hervorragend begabten Personen finden, so ist vor allem das Fehlen jeder Anlage für Kunstleistungen, speziell Mangel musikalischer und zeichnerischer Begabung zu erwähnen; auch Talent für Mathematik wird häufig vermißt, mitunter sogar bei intellektuell sehr hochstehenden Personen1). Mit der Fähigkeit zur Aneignung fremder Sprachen ist es ebenfalls mitunter schlecht bestellt, was mit individuellen Eigentümlichkeiten des Gedächtnisses zusammenhängen mag. Bei bedeutenden Künstlern und Gelehrten ist, wie wir schon andeuteten, öfters der Mangel an sogenanntem praktischen Verstand auffällig. Während die Betreffenden auf dem Gebiet ihrer Berufstätigkeit Bedeutendes, selbst Geniales leisten, erweisen sie sich den praktischen Anforderungen des Lebens gegenüber als unzulänglich; sie verstehen es insbesondere nicht, mit Geld wirtschaftlich umzugehen und ihren materiellen Vorteil zu wahren, auch wenn dies ohne besondere Schwierigkeiten geschehen kann. Daß dieser Mangel an praktischem Sinn nicht notwendig mit der künstlerischen und wissenschaftlichen Begabung zusammenhängt, zeigt zur Genüge der Umstand, daß auch manche große Künstler und Gelehrte es verstehen, ihre Leistungen entsprechend materiell zu verwerten und mit ihrem Erwerb wirtschaftlich umzugehen. Das Bohèmetum ist kein Charakteristikum großen Geistes, wenn auch mancher hervorragende Künstler und Schriftsteller demselben zeitweilig verfiel. Die Gedächtnisleistungen zeigen auch bei wohlbegabten Individuen, und zwar sowohl in Bezug auf die sogenannte Merkfähigkeit, wie die Reproduktion weiter zurückliegender Erlebnisse, bedeutende Schwankungen. Speziell sind die Unterschiede in den Leistungen der einzelnen Sinnesgedächtnisse sehr auffällig. Bei einem Künstler, der ein hervorragendes optisches Gedächtnis besitzt, kann das akustische (das Gehör) sehr wenig entwickelt sein; Personen, die ein ausgezeichnetes musikalisches Gedächtnis haben, mögen im übrigen nur mäßige Gedächtnisleistungen aufweisen. Ein Mann, der sich eines ausgezeichneten Gedächtnisses für Tatsachen erfreut, kann ein schlechtes für Namen und Zahlen besitzen. In Bezug auf die Reproduktion weiter zurückliegender Ereignisse stoßen wir in einzelnen Fällen auf Mängel, die wir den betreffenden Personen in Anbetracht ihrer Intelligenz und Bildung nicht zutrauen würden. So konnte mir ein hervorragender, mit dem Professortitel ausgezeichneter Künstler das Jahr seiner Vermählung ebensowenig wie die Todesjahre seiner Eltern genau angeben. Bemerkenswert ist auch, daß manche intellektuell hervorragende Männer des Rednertalents ganz entbehren und dadurch genötigt sind, auf öffentliches Auftreten zu verzichten. In Bezug auf das zarte Geschlecht ist hier noch zu erwähnen, daß manche sehr intelligente Frauen durchaus kein wirtschaftliches Talent besitzen, auch kein Geschick für Handarbeiten zeigen.

Wir müssen hier nun noch bei dem auffälligen Umstand etwas verweilen, daß, während beschränkte Individuen mitunter in ihrem Beruf sehr Tüchtiges leisten und auch außerhalb desselben, soweit es sich um materiellen Erwerb handelt, ihren Vorteil verstehen, nicht wenige geistig hervorragende Personen den praktischen Angelegenheiten des Lebens gegenüber eine Unbeholfenheit und Unzulänglichkeit zeigen, die mit ihren sonstigen intellektuellen Leistungen schwer vereinbar erscheint. Es fragt sich hier, ob unsere Erfahrungen über den Einfluß des Unterrichts und der Übung auf die Entwicklung der intellektuellen Allgemeinfähigkeiten zur Erklärung der in Betracht kommenden Tatsachen genügen, oder ob wir die Annahme besonderer Talente, die bei geringer Allgemeinbegabung vorhanden sein, bei guter fehlen können, nötig haben. Man könnte hier an ein besonderes Talent für den kaufmännischen Beruf oder ein umfassenderes für praktische oder geschäftliche Angelegenheiten denken. Berücksichtigen wir zunächst erstere Frage, so ergibt sich Folgendes: Jede anhaltende berufliche Tätigkeit führt dazu, daß die intellektuelle Leistungsfähigkeit für das betreffende Gebiet gesteigert wird. Der erfahrene Arzt ist oft imstande, mit einem Blick sozusagen eine sehr komplizierte Sachlage richtig zu erfassen, wenn es sich um einen Kranken und dessen Umgebung handelt; derselbe Arzt mag aber von einem an Intelligenz unter ihm stehenden Handwerker, dem er die Ausführung einer Arbeit übertragen hat, übervorteilt werden und in der dadurch geschaffenen Rechtslage auch bei längerem Nachdenken zu keinem Ergebnis kommen, während der zu Rat gezogene Jurist sofort über die einzuleitenden Schritte im Klaren ist. Der beschränkte Kaufmann ist, insbesondere wenn er seinen beruflichen Interessen seine volle Aufmerksamkeit widmet und tüchtige Unterweisung durch einen Lehrherrn gefunden hat, imstande, sich die für seine Branche erforderliche Warenkenntnis, wie die nötige Vertrautheit mit den Einrichtungen des Geschäftsbetriebs und den Anforderungen der Kundschaft zu verschaffen. Er ist auch in der Lage, die auf dem umgrenzten Gebiet seiner Branche gewonnen Erfahrungen bei anderen geschäftlichen Transaktionen zu verwerten und so sich materiell emporzuarbeiten, während z. B. ein Gelehrter von weit bedeutenderer Intelligenz dies nicht vermag. Der letztere setzt seine intellektuellen Fähigkeiten ganz und gar in den Dienst der Wissenschaft; die praktischen Angelegenheiten des Lebens haben für ihn nur ein untergeordnetes Interesse; er kümmert sich um dieselben nur soweit, als unbedingt nötig, und die Folge ist, daß seine intellektuellen Fähigkeiten, speziell sein Urteilsvermögen in Bezug auf dieselben nicht geübt werden; er bleibt daher in dieser Hinsicht unerfahren, unbeholfen und abhängig von dem Urteile anderer Personen. Außerdem kommt in Betracht, daß manche große Künstler und Gelehrte es ihrer gar nicht würdig erachten, materielle Angelegenheiten in der Art wie andere Menschen zu behandeln, daher es auch verschmähen, Erfahrungen in Bezug auf dieselben zu sammeln und zu verwerten und sich dadurch vor Schaden zu bewahren.

Nach dem eben Dargelegten kann der Einfluß des Unterrichts und der Übung auf die Entwicklung des sogenannten praktischen Sinnes, d. h. der intellektuellen Befähigung für praktische Angelegenheiten nicht wohl in Zweifel gezogen oder gering veranschlagt werden. Es erscheint daher die Annahme eines speziell kaufmännischen, oder allgemeiner eines praktischen Talentes, ähnlich der Begabung für Musik oder Mathematik, nicht erforderlich. Wenn wir jedoch die großen Unterschiede, welche geistig bedeutende, im gleichen Beruf tätige Menschen in Bezug auf den praktischen Sinn darbieten, berücksichtigen, so kann man den Gedanken nicht ohne weiteres abweisen, daß dieselben nicht lediglich von dem Grad der Übung, sondern auch von der Art der angeborenen Veranlagung abhängen mögen. Die Erfahrung zeigt, daß unter den Vertretern der gelehrten Berufe, auch unter den Künstlern sich solche finden, die auch den Anforderungen der mit ihrem Beruf nicht zusammenhängenden geschäftlichen Angelegenheiten sich völlig gewachsen erweisen, an denen, wie man zu sagen pflegt, ein Kaufmann verloren ist. Andrerseits begegnet man aber auch intelligenten Kaufleuten, die auch nach vieljähriger kommerzieller Tätigkeit keine geschäftsmännische Ader zeigen; die wohl zum Gelehrten taugen würden, zum Kaufmann aber verdorben sind. Daneben mangelt es nicht an Personen, die mit hervorragenden kaufmännischen Eigenschaften die Befähigung zum Gelehrten vereinigen. Ein besonders markantes Beispiel dieser doppelten Veranlagung repräsentiert Dr. Schliemann, der bekanntlich sich als Kaufmann Reichtümer und als archäologischer Forscher gewaltige Verdienste erwarb.

Im Bereich jener Wissenschaften, in welchen zwischen Theorie und Praxis unterschieden wird, stößt man auf die Tatsache, daß hervorragende Theoretiker nicht immer gute Praktiker sind und umgekehrt. Die Fähigkeit, sich wissenschaftliche Kenntnisse anzueignen,und die, dieselben praktisch zu verwerten, stehen keineswegs immer auf gleicher Höhe. So hat man bei unseren Juristen die Wahrnehmung gemacht, daß diejenigen, welche sehr gute Examensnoten sich erwarben, in der Praxis sich mitunter weniger bewährten, als Leute mit schlechteren Noten.

Wenn man alle diese Tatsachen berücksichtigt, kann man sich der Ansicht nicht verschließen, daß Unterweisung und Übung allein die Unterschiede in Bezug auf die Befähigung für praktische Angelegenheiten bei intellektuell wohlbegabten Personen nicht zu erklären vermögen. Die vorliegenden Erfahrungen sprechen vielmehr dafür, daß Unterschiede in der angeborenen Veranlagung der Einzelindividuen bestehen, derart, daß die einen mehr für die Erfassung des Konkreten, Realen, (Praktischen), die anderen für die des Abstrakten (der Theorie) qualifiziert sind und nur eine kleinere Gruppe in beiden Hinsichten gleich gute Veranlagung besitzt.

 

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1) Paul Heyse z. B. hat bezüglich seiner Person diesen Umstand selbst hervorgehoben. Auch von Goethe ist es bekannt, daß die Begabung für Mathematik bei ihm nur sehr wenig entwickelt war, ebenso von Hammerling. Von Schopenhauer wurde schon betont, daß die Anlage zur Mathematik eine ganz spezielle und eigene ist, die mit den übrigen Fähigkeiten eines Kopfes gar nicht parallel geht, ja nichts mit ihnen gemein hat.


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