[Vergleich der Kultur des klassischen Altertums mit der der Gegenwart. Der Entwicklungsgang der modernen europäischen Kultur.]


Es erübrigt uns, nun noch zuzusehen, was ein Vergleich der Kultur des klassischen (griechisch-römischen) Altertums mit der der Gegenwart inbezug auf die uns hier beschäftigende Frage ergibt. Wir haben im Vorhergehenden hauptsächlich das geistige Verhalten der Massen berücksichtigt. Man könnte nun daran denken, daß, wenn bei diesen auch die geistigen Fähigkeiten seit Jahrtausenden nur wenig zugenommen haben, dennoch die intellektuellen Leistungen der Gegenwart die des klassischen Altertums so erheblich überragen, daß man wenigstens für die begabteren Kreise der Bevölkerung einen bedeutenden intellektuellen Fortschritt annehmen müßte. Es wird sich jedoch zeigen, daß zu einer derartigen Annahme keine genügende Berechtigung besteht. Der Vergleich, den wir hier unternehmen wollen, kann selbstverständlich nur einige der hervorstechendsten Züge beider Kulturen kurz in Betracht ziehen und in der Art einer Stichprobe geschehen, da eine eingehendere Behandlung des Gegenstandes ein größeres Werk erheischen würde.

Zunächst erscheint es aber wünschenswert, daß wir einen kurzen Blick auf den Gang der Entwicklung der modernen europäischen Kultur werfen. Die Völker, welche den Untergang des weströmischen Reiches herbeiführten und damit auch der antiken (griechisch-römischen) Kultur den Todesstoß versetzten, waren Barbaren und konnten deshalb das, was sie vernichteten, nur durch einen Zustand von Barbarei ersetzen. Aus diesem entwickelte sich im Laufe einer Reihe von Jahrhunderten die Kultur des Mittelalters, für deren Gestaltung in erster Linie die Macht der Kirche, in untergeordnetem Maße auch übernommene Elemente der antiken und der arabischen Kultur bestimmend waren. Wie traurig sich der Zustand der Wissenschaft und der allgemeinen Volksbildung hierbei gestaltete, ist schon oft zur Genüge betont worden. Dies änderte sich erst, als von Italien aus die eingehendere Bekanntschaft mit den Schätzen der alten klassischen Literatur sich in Europa verbreitete. Man war zwar in der letzten Periode des Mittelalters dahin gekommen, nach einer Befreiung des Denkens von den Fesseln des Kirchenglaubens und des scholastischen Systems zu streben, aber es mangelte an führenden Geistern, die dem Denken und Forschen die Bahnen anwiesen. Die umfassendere Wiedererschließung der klassischen Literatur brachte die Vorbilder, deren man bedurfte, und zwar nicht bloß für die künstlerische und wissenschaftliche Tätigkeit, sondern auch für jede höhere Geistesbildung (den Humanismus). "Hatte man im Mittelalter", bemerkt Weber1), "den Alten nur die Gesetze des Denkens entlehnt, den Inhalt ihres Denkens aber ängstlich ferne gehalten, so nahm man jetzt den antiken Geist in sich auf. Man idealisierte das Altertum, fing an, die Klassiker als Lehrer idealer Weisheit, als ewig gültige Vorbilder edlen Geschmackes und reiner Schönheit zu empfinden, man lernte an den antiken Baudenkmälern eine neue Baukunst, man genoß staunend die ebenmäßige Schönheit der aus dem Schutte herausgegrabenen Marmorstatuen und nahm sie als Muster einer neuer Plastik. Jahrhunderte lang ist seitdem das Studium des Altertums Grundlage höherer wissenschaftlicher und künstlerischer Bildung geblieben und ein unvergänglicher Bestandteil moderner Kultur geworden, ohne den nationalen Charakter zu schädigen."

In erster Linie wollen wir hier einige Urteile einer gewiß kompetenten Persönlichkeit, nämlich Goethes, über die Geisteskultur der Griechen und speziell ihre Leistungen auf dem Gebiet der Kunst anführen: "Wir Deutschen sind von gestern. Wir haben zwar seit einem Jahrhundert ganz tüchtig kultiviert, allein es können noch ein paar Jahrhunderte hingehen, ehe bei unseren Landsleuten so viel Geist und höhere Kultur eindringt, und allgemein werde, daß sie gleich den Griechen der Schönheit huldigen, daß sie sich für ein hübsches Lied begeistern und daß man von ihnen wird sagen können, es sei lange her, daß sie Barbaren gewesen."

"Wir müssen nicht denken, das Chinesische wäre es oder das Serbische, oder Calderon oder die Nibelungen, sondern im Bedürfnis von etwas Musterhaften müssen wir immer zu den alten Griechen zurückkehren, in deren Werken stets der schöne Mensch dargestellt ist. Alles Übrige müssen wir nur historisch betrachten und das Gute, so weit es gehen will, uns daraus aneignen."

"Wir bewundern die Tragödien der alten Griechen; allein recht besehen, sollten wir mehr die Zeit und die Nation bewundern, in der sie möglich waren, als die einzelnen Verfasser. Denn wenn auch diese Stücke unter sich wenig verschieden und wenn auch der eine dieser Poeten ein wenig größer und vollendeter erscheint als der andere, so trägt doch, im Großen und Ganzen betrachtet, alles nur einen einzigen durchgehenden Charakter des Großartigen, des Tüchtigen, des Gesunden, des Menschlich-Vollendeten, der erhabenen Denkungsweise, der rein kräftigen Anschauung und welche Eigenschaften man noch sonst aufzählen könnte. Finden sich nun aber alle diese Eigenschaften nicht bloß in den auf uns gekommenen dramatischen, sondern auch in den lyrischen und epischen Werken, finden wir sie ferner bei den Philosophen, Rhetoren und Geschichtsschreibern und in gleich hohem Graöe in den auf uns gekommenen Werken der bildenden Kunst, so muß man sich wohl überzeugen, daß solche Eigenschaften nicht bloß einzelnen Personen anhafteten, sondern daß sie der Nation und der ganzen Zeit angehören und in ihr in Kurs waren"2).

Für das Urteil Goethes über die Griechen waren wohl in erster Linie die Werke ihrer großen Dichter bestimmend. Was die Leistungen der Griechen in den bildenden Künsten, speziell der Plastik, anbelangt, ist das Urteil hierüber in der Gegenwart wie in der Vergangenheit so einhellig wie kaum über einen anderen Gegenstand. Die Schöpfungen der großen griechischen Bildhauer, eines Phidias, eines Praxiteles sind (selbst in ihren Nachbildungen) nicht nur für die Künstler der antiken Welt Vorbilder geworden, sie stellen bis heute unübertroffene Glanzstücke der europäischen Museen dar.

Die Leistungen der Griechen in den Wissenschaften stehen nicht auf derselben Höhe, wie die in der Kunst, doch geben die verhältnismäßig spärlichen Reste ihrer wissenschaftlichen Arbeiten, die sich bis auf unsere Zeit erhalten haben, genügendes Zeugnis für die Größe ihrer Begabung auch in dieser Richtung. Ist auch der Fond von gesicherten wissenschaftlichen Tatsachen, den uns die Griechen überlieferten, im Verhältnis zu dem, was die neuere und neueste Zeit hinzugefügt hat, gering, so haben sie doch für eine Reihe von Wissenschaften die Grundlagen geschaffen, auf denen die Späteren weiterzubauen vermochten, und zum Teil auch die Methoden ausgebildet, die eine systematische wissenschaftliche Tätigkeit erfordert. Dies gilt für die Natur- wie für die Geisteswissenschaften. Berücksichtigt man die Schwierigkeiten, mit welchen die Denker und Forscher des griechischen Altertums zu kämpfen hatten, die Dürftigkeit der Literatur, auf welche sie sich stützen konnten, die Beschränktheit der Hilfsmittel für wissenschaftliche Untersuchungen und Beobachtungen, den Mangel staatlicher Institute und Sammlungen für wissenschaftliche Zwecke3), so muß man zugeben, daß ihre Leistungen auf wissenschaftlichem Gebiete kein geringeres Maß von Geisteskräften erheischten, als die neuzeitlichen. Zum Beleg mögen hier folgende Urteile dienen:

Kuno Fischer äußert sich in seiner "Geschichte der neueren Philosophie" über die griechische Philosophie folgendermaßen: "Die griechische Philosophie ist in der Ausbildung und Reihenfolge ihrer Probleme ein bewunderungswürdiges und unvergleichliches Beispiel einer tiefsinnigen und zugleich höchst naturgemäßen und einfachen Entwicklung. Nichts ist hier gewaltsam erkünstelt, nirgends findet sich in dem fortschreitenden Ideengange ein Sprung, überall sind die verknüpfenden Mittelglieder durchdacht und ausgeprägt, ein Zusammenhang der lebendigsten Art verbindet die Glieder dieser weit ausgedehnten Reihe zu einem Ganzen, in dessen großartigen Formen wir den bildnerischen Geist der klassischen Kunst wiedererkennen. Diesen Eindruck macht nur die griechische Philosophie. Sie hat ihre Gedankenwelt aus einem Volke, aus einer Sprache geboren und darum nichts von der Zerstücklung solcher philosophischer Zeitalter, in deren Ausbildung verschiedene Völker zusammenwirken. Und welche inhaltsvolle und reiche Entwicklung erlebt die griechische Philosophie! In ihren Anfängen berührt sie noch die kosmogonischen Dichtungen der Naturreligion, in ihrem Ende finden wir sie dem Christentum gegenüber, welches sie nicht bloß als ein wesentlicher Faktor miterzeugen, sondern als ein wesentliches Bildungsmittel miterziehen hilft."

Über die Leistungen der Griechen in der Mathematik bemerkt Sturm in seiner "Geschichte der Mathematik": "Thales, Pythagoras, Plato, Anaxagoras, Eudoxius u. a. brachten mathematisches Wissen aus dem geheimnisvollen Lande der Pharaonen in die Heimat. Mit instinktivem Feingefühl erkannten diese Männer rasch die eigentliche Bedeutung und den wissenschaftlichen Charakter der Mathematik und unter ihren Händen erstand das vollendete Gebäude der antiken Geometrie, dem, was Gedankenstrenge anbelangt, kaum ein anderes Menschenwerk an die Seite gesetzt werden kann".

Ähnlich lautet das Urteil Dannemanns (Grundriß einer Geschichte der Naturwissenschaften): "Einige Jahrhunderte unausgesetzter Pflege dieser Wissenschaft, mit der sich auch die hervorragendsten unter den Philosophen, wie Plato und Aristoteles, beschäftigten, genügten nämlich, um in den Werken des Apollonios und des Archimedes Leistungen heranreifen zu lassen, welche noch heute Bewunderung erregen. Zumal in der Hand des letzteren wurde die Mathematik zu einem Werkzeug, mit welchem die Bewältigung physikalischer Aufgaben gelang."

Der gleiche Autor bemerkt über die Leistungen der Alten, speziell der Griechen, in den Naturwissenschaften: "Nachdem sich die ersten Regungen des mathematischen Denkens gezeigt, wurden die Fragen nach Gestalt und Größe der Erde, sowie ihrer Beziehung zu den übrigen Weltkörpern aufgeworfen und in solchem Umfang der Lösung entgegengeführt, daß damit die Grundlage für jede weitere geographische und astronomische Erkenntnis geschaffen war. Unter den physikalischen Leistungen der Alten nehmen die bewunderungswürdigen Arbeiten des Archimedes, des Schöpfers der Mechanik, die erste Stelle ein. Ferner werden wichtige Probleme der Optik und Akustik in Angriff genommen. Bei Aristoteles begegnet uns sogar die Ansicht, daß das Licht wie der Schall auf die Bewegung einer zwischen dem empfindenden Auge und dem leuchtenden Körper befindlichen Mediums zurückzuführen sei. In einer späteren Zeit stellt man Versuche über die Wirkung durch Wärme erzeugter Dämpfe an. Selbst die Grunderscheinungen des Magnetismus und der Reibungselektrizität werden beobachtet und zu erklären gesucht. Auch die Wurzeln der chemischen Wissenschaft haben wir im Altertum zu suchen."

Es sei hier ferner erwähnt, daß Aristoteles durch seine "Tierkunde" Begründer der Zoologie, sein Schüler Theophrast durch seine "Naturgeschichte der Gewächse" Begründer der Botanik wurde, und daß der geniale Astronom Aristarch schon ein und einhalb Jahrtausende vor Kopernikus die heliozentrische Theorie klar aussprach.

 

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1) Weber: "Lehr- und Handbuch der Weltgeschichte". 21. Aufl. 3 Bö. S. 27.

2) Siehe Eckermann: "Gespräche mit Goethe."

3) Eine Ausnahme in dieser Beziehung machte nur Alexandrien.


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