[Schlußfolgerungen bezüglich der Frage des intellektuellen Fortschritts in Mitteleuropa. Bedeutung der Städte für die geistige Entwicklung des Volkes.]


Wenn wir die im Vorstehenden angeführten zwei Reihen von Tatsachen einer Prüfung unterziehen, so müssen wir zu der Auffassung gelangen, daß wir noch keine Ursache haben, auf den Fortschritt der Intelligenz, i. e. die Abnahme der Dummheit der Massen im Laufe der letzten Jahrtausende besonders stolz zu sein. Wir wollen eine gewisse Hebung des intellektuellen Niveaus der Masse unserer Bevölkerung keineswegs leugnen, allein diese Hebung ist weder so bedeutend, noch so verbreitet, als man vielfach anzunehmen geneigt ist. Der Fortschritt, der im Laufe der Jahrtausende in Deutschland und Mitteleuropa sich vollzogen hat, ist weniger in einer Steigerung der geistigen Fähigkeiten der Gesamtbevölkerung, als in dem Anwachsen der intelligenteren Kreise innerhalb derselben zu suchen. Vergleichen wir die gegenwärtige Verteilung der Einwohnerschaft Deutschlands auf Stadt und Land und die einzelnen Berufskreise und das Verhältnis der Kopfarbeiter zu den Handarbeitern mit den Zuständen im Mittelalter, so ergibt sich wenigstens mit größter Wahrscheinlichkeit, daß der besser begabte und gebildete Teil der Bevölkerung nicht bloß absolut, sondern auch relativ bedeutend angewachsen ist. Dies ist in erster Linie auf die Mehrung und größere Ausdehnung der Städte seit dem Mittelalter zurückzuführen, in welchen kommerzielle, gewerbliche und künstlerische Tätigkeit ein höheres Maß geistiger Regsamkeit erheischen; des weiteren auf die fortschreitende Ausbildung der staatlichen Organisation und des Heerwesens, die eine Vermehrung der Beamten und die Entwicklung eines besonderen Offizierstandes zur Folge hatte; endlich auch und nicht zum geringsten Teil auf die Hebung des gesamten Unterrichtswesens, insbesondere im 18. und 19. Jahrhundert, durch welche höhere Bildung einer ungleich größeren Zahl von Individuen zugänglich gemacht wurde als früher. Die Veränderungen, welche die Kultur und das Erwerbsleben in den Jahrhunderten nach dem Mittelalter erfuhren, hatten einen erhöhten Bedarf an besser begabten Arbeitskräften zur Folge — im Kampf ums Dasein siegte ja nicht mehr die rohe Gewalt, sondern der überlegene Verstand — und diesem Bedarf wurde nicht nur durch Einwandern intelligenterer Elemente vom Land in die Städte, sondern auch dadurch Genüge geleistet, daß die Städter ihrer eigenen geistigen Kultur und der ihrer Nachkommen größere Sorgfalt zuwandten und auch bei der Gattenwahl das intellektuelle Verhalten nicht ganz unberücksichtigt ließen. So mußte es, da in den Städten nicht nur Handel, Gewerbe und Industrie sich mehr und mehr entwickelten, sondern auch die höheren Unterrichtsanstalten (Mittelschulen und Universitäten) ausschließlich ihren Sitz hatten, zu einer stetigen Mehrung der intelligenteren Elemente in den Städten kommen. Die Städte wurden Zentren der Intelligenz im Reich und die Bürgerschaft in denselben, womit aber keineswegs die Bourgeoisie im engeren Sinne gemeint sein soll, Hauptträger der Kultur.

 

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