[Die Frage des intellektuellen Fortschritts der Menschheit.
Die in Betracht kommenden Einzelfragen. Die Ansicht der Optimisten. Schwierigkeiten des Problems.]


Ist die Dummheit heutzutage weniger verbreitet und geringer, als in früheren Zeiten, berechtigen uns die Tatsachen der politischen und Kulturgeschichte, der Völkerkunde und Völkerpsychologie zu der Annahme, daß das intellektuelle Niveau der Massen ein höheres ist, als vor 500, 1000, 2000 und mehr Jahren? Haben wir es mit einem stetigen Fortschritt in der intellektuellen Entwicklung der Menschheit zu tun und besteht die Hoffnung, daß die Dummheit schließlich ganz überwunden wird? Manchen mag die Beantwortung dieser Fragen leicht erscheinen. Man spricht soviel von den Segnungen unserer Kultur, von der Aufklärung, welche durch den Schulunterricht und die Presse verbreitet wird, von dem Einfluß der modernen Verkehrsmittel, den riesigen Fortschritten der modernen Technik, welche auch den breitesten Massen zugute kommen, und wiegt sich dabei in dem Glauben, daß wir es herrlich weit gebracht und uns intellektuell weit über das Mittelalter und das Altertum erhoben haben. Die Beantwortung der erwähnten Fragen stößt jedoch tatsächlich auf erhebliche Schwierigkeiten. Die politische Geschichte beschäftigt sich vorwaltend mit den Taten der Mächtigen; sie gibt uns über die intellektuellen Leistungen der Volksmassen in den verschiedenen geschichtlichen Perioden keinen direkten Aufschluß. Auch die Kulturgeschichte liefert wenig wertvolles Material, da die Fortschritte in der Kultur nur von einzelnen hervorragenden Personen ausgehen und von den Massen nur angenommen werden. Die Tatsachen der Völkerkunde und Völkerpsychologie sind zum großen Teile mehrdeutig und gestatten sehr abweichende Ansichten. Man hat z. B. früher ziemlich allgemein angenommen, daß die Naturvölker der Gegenwart einen Kulturzustand aufweisen, in dem die Kulturvölker in weit zurückliegenden Zeiten sich befanden und daß dem niederen Stand der Kultur auch geringere geistige Entwicklung entspreche. Wallace hat dagegen in einer in neuerer Zeit veröffentlichten Arbeit die intellektuelle Überlegenheit der Kulturvölker über die Naturvölker entschieden bestritten. Die Naturvölker beweisen nach ihm in ihrer Sprache, ihrem sozialen Leben und ihrem Charakter ganz dasselbe Maß geistiger Fähigkeiten, wie die modernen Kulturvölker, und wenn sie wirklich in einzelnen Punkten zurückstehen, so seien sie in anderen überlegen.

Wenn sich auch gegen die Wallacesche Ansicht gewichtige Einwände geltend machen lassen, so weist dieselbe doch darauf hin, daß die Beantwortung der Frage, wie es mit dem intellektuellen Fortschritt der Menschheit steht, sich doch nicht so einfach gestaltet, wie vielfach angenommen wird.

 

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