[Schwierigkeiten der Definition des Aberglaubens. Lehmann's Definition. Eigene Auffassung. Verschiedenheit der kirchlichen und wissenschaftlichen Ansichten bezüglich des Aberglaubens.]


Dummheit und Aberglaube finden sich so häufig vergesellschaftet, daß manche der Annahme zuneigen mögen, letzterer sei lediglich ein Produkt ersterer. Diese Auffassung ist nicht ganz zutreffend. Wenn wir über die Beziehungen der Dummheit zum Aberglauben Klarheit erlangen wollen, müssen wir zunächst der Frage nähertreten, was wir unter Aberglauben zu verstehen haben. Die Beantwortung dieser Frage stößt jedoch auf manche Schwierigkeiten, was schon aus der Tatsache erhellen mag, daß die Auffassung, zu welcher Lehmann in seinem trefflichen Werke "Aberglaube und Zauberei" nach längeren Auseinandersetzungen gelangte, keineswegs einwandfrei ist. Der Autor bemerkt: "Aberglaube ist jede allgemeine Annahme, die entweder keine Berechtigung in einer bestimmten Religion hat oder im Widerstreit steht mit der wissenschaftlichen Auffassung einer bestimmten Zeit von der Natur". Dagegen läßt sich geltend machen, daß das, was im Widerstreit mit der wissenschaftlichen Auffassung einer bestimmten Zeit steht, nicht bloß Aberglaube, sondern auch im Gegenteil ein bedeutender Fortschritt in der Erkenntnis sein kann. Die großen naturwissenschaftlichen Entdeckungen standen zum Teil keineswegs im Einklang mit den herrschenden Ansichten und konnten deshalb nur allmählich zur allgemeinen Anerkennung gelangen. Eine Definition des Aberglaubens, die auf allgemeine Geltung Anspruch erhebt, hat nicht lediglich die Beziehungen desselben zum religiösen Glauben und der Wissenschaft, sondern auch zum gewöhnlichen Irrtum zu berücksichtigen. Der Aberglaube ist ja ein falscher, ein irriger Glaube, sohin ebenfalls ein Irrtum, aber ein solcher von eigener Art und deshalb von dem gewöhnlichen Irrtum zu unterscheiden. Dieser Forderung dürfte folgende Definition Genüge leisten: Aberglaube ist eine Annahme, welche weder in den Lehren einer bestimmten Religion, noch in dem augenblicklichen Stande der wissenschaftlichen Erfahrung eine Stütze besitzt — eine Annahme, welche, obschon längst widerlegt, sich dennoch erhalten hat und eine gewisse Verbreitung besitzt1). Der Aberglaube ist nicht das Geistesprodukt eines einzelnen Individuums oder der Gegenwart, wie es der gewöhnliche Irrtum sein mag, sondern etwas überkommenes, Überliefertes, man könnte sagen, eine Münze, die, obschon lange außer Kurs gesetzt, in gewissen Kreisen noch immer als vollgültig zirkuliert. Jeder Aberglaube, wie töricht er uns auch erscheinen mag, hat eine Vergangenheit. Bei näherer Prüfung erweist er sich als Überbleibsel einer früher auf religiösem oder wissenschaftlichem Gebiet herrschenden oder wenigstens im Volk sehr verbreiteten und auch von den Intelligenten geteilten Ansicht. Um nur ein Beispiel zu erwähnen, so bildet der Glaube an Sympathiemittel, den wir heutzutage als eine besonders stupide Spezies von Aberglauben betrachten, das Überbleibsel einer Anschauung, welche vor Jahrhunderten in der ärztlichen Welt sehr großen Anhang besaß.

 

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1) Da gewisse Vorstellungen sowohl vom Standpunkt der Religion, resp. einer bestimmten Konfession, als der Wissenschaft beurteilt werden können, so liegt es nahe, daß die Auffassungen darüber, was als Aberglaube zu betrachten ist, zum Teil erheblich schwanken müssen. So hat, wie Hansemann in "Der Aberglaube in der Medizin etc.", S. 86 erwähnt, die Inquisitionskongregation in Rom am 29. Juni 1903 festgestellt, daß es kein Aberglaube sei, wenn Papierbilder, welche die Madonna darstellen, in Wasser aufgelöst getrunken oder zu Pillen gedreht verschluckt werden, um Genesung von Krankheiten zu erlangen. Es ist wahrscheinlich, daß die Herren von der Inquisitionskommission einige Kenntnis von den Suggestionswirkungen besitzen, und sie haben deshalb vielleicht den Umstand in Betracht gezogen, daß die in Frage stehenden Papierteile, wenn der nötige Glaube an ihre Wirksamkeit vorhanden ist, Heilung herbeiführen können. Dies kann aber an der Auffassung der Wissenschaft nichts ändern, welche die Vorstellung, daß Papier, in Wasser aufgelöst oder zu Pillen gedreht ein Heilmittel bilden soll, in das Gebiet des Aberglaubens verweisen muß. Wir wissen auch, daß die Anwendung sogenannter Sympathiemittel mitunter auf suggestivem Wege Heilwirkungen erzielt. Der Glaube an Sympathiemittel bleibt trotzdem ein Aberglaube, weil man in den betreffenden Fällen die Wirkung nicht von der Suggestion, sondern von einem Mittel, das völlig ungeeignet ist, einen Einfluß auf eine Krankheit auszuüben, erwartet. Ebenso handelt es sich, vom wissenschaftlichen Standpunkte betrachtet, im obigen Falle um Aberglaube, weil offenbar dem Papier als solchem, nicht der Suggestion, die mögliche Heilwirkung zugeschrieben wird.


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