[Beeinflussung des Denkens und Urteilens durch Gefühle. Die Affektivität als Quelle von Irrtümern und Torheiten in besonderem Maße bei Beschränkten.]


Es ist ein Irrtum, wenn man glaubt, daß unsere Anschauungen, Urteile und Entschlüsse lediglich durch unsere Intelligenz, das Maß unseres Verstandes, bestimmt werden. Der Verstand ist kein autonomes, von anderen seelischen Faktoren unabhängiges Vermögen. Unsere Denkprozesse werden durch Gefühle mehr oder weniger beeinflußt, z. T. sogar beherrscht, und diese Beeinflussung gestaltet sich häufig in einer uns wenig oder überhaupt nicht merklichen Weise. Daß Affekte, wie Angst, Zorn, Freude, auch intelligente Personen ausgesprochene Torheiten begehen lassen, ist bekannt; aber auch weniger lebhafte Gefühlszustände, wie z. B. Sympathien und Antipathien, können unvorteilhafte Bedeutung für unser Urteil und unsere Entschlüsse erlangen, indem sie den Verlauf der Gedanken in die ihnen adäquaten Bahnen lenken und das Auftreten entgegengesetzter Vorstellungen erschweren oder verhindern. Von einem Menschen, für den wir Wohlwollen empfinden, können wir kaum etwas Schlimmes annehmen, auch wenn hiefür triftige Gründe vorliegen, während wir geneigt sind, einem Anderen, der uns aus irgend einem Grunde antipathisch ist, schon auf schwache Anzeichen hin eine Missetat zuzutrauen. Es ist dem gegenüber begreiflich, daß die Neigung zu häufigem Auftreten lebhafterer Gefühle ohne entsprechende Veranlassung (der Zustand der Affektivität oder erhöhter gemütlicher Erregbarkeit) für den Besitzer meist eine Quelle von Irrtümern und Torheiten wird. Dies gilt besonders für das weibliche Geschlecht mit seinem regeren Gefühlsleben, bei dem, wie man sagt, das Herz dem kalt abwägenden Verstand gegenüber den Ausschlag gibt. Das Mitleid, das bei einer Frau durch einen Schwindler erregt wird, veranlaßt sie z. B. zu einer über ihre Verhältnisse hinausgehenden Schenkung, die sich nachträglich als Dummheit erweist, und die bittere Erfahrung, die sie in diesem Falle gemacht hat, schützt sie keineswegs vor einer Wiederholung dieser Dummheit, da ihr "gutes Herz" immer wieder die Oberhand über den Verstand behält.

Es liegt nahe, daß der Einfluß der Gefühle auf Denken und Handeln bei Beschränkten sich in stärkerem Maße geltend macht, als bei besser begabten Individuen. Der gefühlvolle Beschränkte läßt sich infolge seiner Urteilsschwäche viel leichter als der Intelligente zu Akten der Gutmütigkeit bestimmen, die ganz und gar unangebracht sind, z. B. Opfer in einem Falle zu bringen, wo solche unnötig und für den Empfänger sogar nachteilig sind. Er sorgt sich ohne genügenden Anlaß um Verwandte und Freunde und macht sich Vorwürfe wegen bedeutungsloser Unterlassungen. Der gefühlsarme Beschränkte wie der, dessen Gefühlsverhalten nur dem Durchschnitt entspricht, ist infolge seiner Urteilsschwäche oft außer Stande, den Eindruck vorher zu sehen, den sein Reden und Handeln auf Andere ausüben. Er begeht daher Rohheiten ohne jede Absicht, indem er z. B. verletzende Äußerungen gegen eine Person sich gestattet, der er zu Dank verpflichtet ist. Im Affekt läßt er sich unbekümmert um die Folgen die Zügel schießen und wird gewalttätig, wo noch eine Verständigung durch Worte möglich wäre. Ein Gutteil dessen, was man gemeinhin als Rohheit betrachtet, ist derart auf Dummheit und nicht auf ethischen Defekt zurückzuführen, wie es sich bei dem durch seinen Charakter zum Rohling Gestempelten findet.


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