[Verschiedene Arten wissenschaftlicher Irrtümer. Dummheiten in der Wissenschaft. Die absurden Ansichten über die Entstehung der Vögel. Das Märchen von der geschlechtslosen Entwicklung der Meergänse.]


Die Dummheit hat auch auf jenem Gebiet menschlicher Tätigkeit, auf welchem Verstandesschärfe besonders vonnöten ist, auf dem der Wissenschaft, nicht selten eine Rolle gespielt, mit der wir uns hier kurz beschäftigen müssen. Das Streben nach Erkenntnis auf den verschiedenen Gebieten menschlichen Interesses führte von Anfang an wie noch gegenwärtig zur Bildung irrtümlicher Ansichten, die nur allmählich, mitunter erst im Laufe vieler Jahrhunderte überwunden werden konnten. Allein diese Irrungen im Bereich der Wissenschaften sind sehr ungleichwertig. Manche derselben sind die Produkte eines überlegenen Geistes, dem zur Erkennung der Wahrheit lediglich die erforderlichen Erfahrungsgrundlagen oder technischen Hilfsmittel fehlten, andere dagegen der Ausfluß einer Geistesschwäche, eines Mangels an Kritik, der auch für die betreffende Zeit nicht entschuldbar ist. Letztere Irrtümer sind wir berechtigt als Dummheiten zu betrachten, von denen sich manche eine ungeheure Zeit hindurch fortschleppten. Theologische Einflüsse spielten hier mitunter eine gewichtige Rolle und führten dazu, daß sich die ungereimtesten Vorstellungen über Naturvorgänge erhielten. Am deutlichsten zeigt sich dies in den Ansichten über die Entstehung der Vögel und die Entwicklung einer gewissen Gattung derselben1). Von theologischer und den Theologen nahestehender Seite wurde seit dem 4. Jahrhundert die Anschauung vertreten und praktisch verwertet, daß die Vögel kaltblütige, fischähnliche Tiere seien, deren Genuß deshalb auch keine Übertretung des Fastengebotes in sich schließe. Man bemühte sich auch, durch die albernsten Darlegungen die Übereinstimmung der Fisch- und Vogelnatur zu erweisen. Als Stütze dieser absonderlichen, allem Tatsächlichen widersprechenden Idee wurde eine Stelle in der Bibel verwertet (Genesis I, 20), nach welcher Gott am fünften Tage den Gewässern befohlen habe, die Fische und die Vögel, welche unter der Veste des Himmels fliegen, hervorzubringen. Indes blieb die Ansicht von der fischartigen Natur aller Vögel nicht ganz unbestritten, und man gelangte allmählich dahin, dieselbe auf die Wasservögel zu beschränken, die dann auch noch als Fastenspeise statt der Fische zugelassen wurden. Ganz besonders gilt dies von den Meergänsen oder -Enten (Bernicla leucopsis), und ein Märchen von der ungeschlechtlichen Entstehung dieser Vögel, das sich wohl aus älteren, andere Vögel betreffenden Sagen entwickelt hatte, trug wesentlich dazu bei, die Verwendung dieser Tiere als Fastenessen zu begründen. Die Meergänse sollten aus den Knospen gewisser am Meeresstrand wachsender, weideähnlicher Bäume sich entwickeln, nachdem sie eine gewisse Größe erlangt, am Schnabel von den Zweigen nach abwärts hängen und nach ihrer Belebung in das Meer fallen. Dieses Märchen erhielt sich, obwohl es von bedeutenden Gelehrten, wie Albertus Magnus, bekämpft wurde, eine Reihe von Jahrhunderten, um dann durch ein anderes ersetzt zu werden, nach welchem die Meergänse aus Ausschwitzungen faulender, im Meer treibender Baumstämme entstehen sollten. Daneben entwickelte sich ein anderes Märchen, das ebenfalls Jahrhunderte hindurch Glauben fand, nach welchem die Meergänse aus einer Muschel (Entenmuschel) hervorgehen sollten. Alle diese Phantastereien wurden von angesehenen Gelehrten gläubig hingenommen, zumal es nicht an ernstzunehmenden Personen fehlte, welche sich durch den Augenschein von dem in Frage stehenden Tatbestand überzeugt haben wollten2).

Bei der Annahme einer fischähnlichen Natur der Vögel und ungeschlechtlicher Entstehung solcher handelt es sich nicht um Irrtümer, die wie viele andere sich aus den unvollständigen Kenntnissen der tatsächlichen Verhältnisse erklären lassen. Die auffälligen Unterschiede in dem Körperbau der Vögel und Fische konnten den Beobachter im Mittelalter ebensowenig entgehen, wie in der Neuzeit, und für die Annahme einer ungeschlechtlichen Entstehung der Vögel mangelte jede tatsächliche Grundlage; sie widersprach sogar aller Erfahrung. Diese Annahmen können daher lediglich als Ausfluß einer Urteilsschwäche betrachtet werden, welche, soweit es sich um die Fischähnlichkeit der Vögel handelt, auch die Heranziehung der Bibel nicht weniger auffällig erscheinen läßt. Besonders merkwürdig ist dabei der Umstand, daß die Produkte dieser Geistesschwäche sich nicht nur viele Jahrhunderte hindurch fortzuschleppen vermochten, sondern auch manche Gelehrte derart suggestiv beeinflußten, daß sie das gesehen zu haben glaubten und behaupteten, was lediglich in ihrer Phantasie existierte.

 

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1) S. Carus Sterne, Die allgemeine Weltanschauung in ihrer historischen Entwicklung. Stuttgart 1898. S. 162 u. f.

2) Welchen Illusionen die Gelehrten bis in das 17. Jahrhundert unterlagen, zeigt in markanter Weise der Bericht, welchen Michael Mayer, der Leibarzt Rudolf II., über die Entstehung der Bernikelgans gibt. Mayer, der an die geschlechtslose Entwicklung der Bernikelgans aus einer Muschel fest glaubte, will den in den Muschelschalen wie in seinem Ei liegenden Fötus des Vogels selbst gesehen und sich überzeugt haben, daß er Schnabel, Augen, Füße, Flügel und selbst angehende Federn besaß. Er schrieb auch dem Harz der Tannen und den auf diesen wachsenden Algen einen besonderen Einfluß bei der Erzeugung der Bernikelgans zu.

Auch Sir Robert Moray, dessen Bericht in den Schriften der Londoner königl. Gesellschaft 1677—78 veröffentlicht ist, behauptete in jeder Muschel (Entenmuschel), die er öffnete, ein vollkommen ausgebildetes Vögelchen gefunden zu haben.


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