[Relativ größere Häufigkeit der Beschränktheit in den untersten und sozial höchststehenden Klassen.]


Die Erfahrung lehrt aller Orten, daß kein Stand die Dummheit ausschließt. Von den Höchstgestellten, den Trägern der Krone und den Angehörigen ihrer Häuser, abwärts bis zu den mühsam um kärglichen Taglohn Arbeitenden, wir finden überall die Dummheit in all ihren verschiedenen Schattierungen. Die relative Häufigkeit der Dummheit ist jedoch in den einzelnen sozialen Schichten der Bevölkerung keine gleiche. Wir finden dieselbe in den untersten Klassen nicht nur absolut, sondern auch relativ am häufigsten da hier viele der Mittel fehlen, welche der Hebung des geistigen Niveaus dienen, und die Dummheit an sich ein Hindernis für das Aufsteigen in der gesellschaftlichen Ordnung bildet. Auf der anderen Seite läßt sich dagegen nicht behaupten, daß die Dummheit in den sozial höchststehenden Kreisen sich relativ am seltensten findet. Zahlreiche Beobachtungen sprechen dafür, daß wir es hier wiederum mit einer Zunahme der Beschränktheit zu tun haben, die der relativen Häufigkeit des ausgesprochenen Schwachsinns und der Geisteskrankheiten in diesen Klassen parallel geht. Man darf wohl annehmen, daß an diesem Umstand in erster Linie die zumeist durch Standesrücksichten bestimmte Gattenwahl, i. e. eine gewisse Inzucht die Schuld trägt. Nicht nur in den regierenden, sondern auch in den hocharistokratischen Häusern war bisher die Gattenwahl durch Hausgesetze auf ebenbürtige Personen beschränkt und knüpften sich an eine nicht standesgemäße Heirat zumeist schwere materielle und sonstige Nachteile. Diese genügen auch in jenen Fällen, in welchen bei der Gattenwahl im Interesse der Nachkommenschaft die geistige und körperliche Beschaffenheit des Ehepartners in erster Linie bestimmend sein sollten, die Wahl in einer Weise zu beeinflussen, welche die Vererbung intellektueller Inferiorität und krankhafter Geisteszustände begünstigt.

Auch in den Kreisen der haute finance besteht vielfach die Neigung, bei der Eheschließung der materiellen Ebenbürtigkeit einen ausschlaggebenden Einfluß einzuräumen. Die Sprossen dieser reichen Familien sind aber, wie die Erfahrung lehrt, häufig mit nervösen und psychischen Mängeln behaftet, und es ist begreiflich, daß die Verbindung zweier solcher Individuen zu einer Nachkommenschaft führt, in der die intellektuelle Minderwertigkeit nicht selten sich findet.

Die Dummheit zeigt zwar in allen Ständen, bei den Prinzen wie bei den Taglöhnern, die gleichen . Grundcharaktere, doch liegt es nahe, daß der Stand für die Form, in welcher dieselbe sich äußert, nicht ohne Bedeutung ist. Der proletarische Arbeiter, welcher für sich und seine Familie nur das Nötigste verdient, der Landmann, welcher von dem Ertrage eines kleinen Gütchens sich dürftig nährt, kann nicht auf Gedanken einer Überhebung kommen, die bei Angehörigen der hohen Aristokratie oder haute finance möglich sind. Wir begegnen daher in den einzelnen gesellschaftlichen Kreisen Äußerungsformen der Dummheit, die in anderen nicht oder nur selten sich finden. So bekundet sich bei den Angehörigen der Aristokratie die Beschränktheit häufig in deren politischen und wirtschaftlichen Anschauungen; die intellektuelle Inferiorität führt hier zu einem jede Neuerung verwerfenden Konservativismus, da sie das Individuum unfähig macht, die bestehenden Mängel in den staatlichen Einrichtungen oder deren Tragweite zu erkennen und Reformideen einer zutreffenden Kritik zu unterziehen. Dieser Konservativismus verknüpft sich häufig mit ausgesprochen reaktionären Anschauungen, i. e. freiheits- und bildungsfeindlicher Gesinnung. Am ausgesprochensten und verbreitetsten fand sich diese Geistesrichtung unter den Angehörigen der russischen Aristokratie. Doch hatte sie auch bei uns, insbesondere im preußischen Junkertum, eine ansehnliche und sehr einflußreiche Vertretung. Die Beratungen über das preußische Landtagswahlgesetz, die noch in aller Erinnerung sind, haben zur Genüge die Unfähigkeit dieser Konservativen gezeigt, sich den Forderungen der Zeit auch nur einigermaßen anzupassen, ein Verständnis für die Interessen des Gesamtvolkes zu gewinnen und auf persönliche Vorteile zu verzichten, auch wenn dies unvermeidlich geworden war. Diese Sorte von Konservativen, die sich für eine Stütze des Staates hielten, glaubte auch in der Beschränktheit ihres Gesichtskreises, daß jede Aufklärung das Volk verderbe und unzufrieden mit seiner Lage mache, und wähnten, sich ein Verdienst zu erwerben, indem sie die auf Hebung der Volksbildung gerichteten Bestrebungen bekämpften.

Im Arbeiterstand äußert sich die Beschränktheit häufig in schiefen und auch ganz haltlosen Urteilen über die Verhältnisse und Leistungen der übrigen Stände. Wer nicht körperlich arbeitet, ist nicht viel besser als ein Faulenzer; Gelehrte, Beamte, Offiziere wissen nichts von Plage und Sorge. Sie erhalten für ihre geringen Leistungen ganz unverhältnismäßig hohe Gehälter, und der Staat könnte sehr wohl ohne den größeren Teil derselben bestehen. Es unterliegt auch keinem Zweifel, daß der beschränktere Teil der Arbeiterschaft den Verlockungen der kommunistischen Agitatoren leichter verfällt als der intelligente, da dieser im Stande ist, an den kommunistischen Verheißungen Kritik zu üben und dadurch von der Beteiligung an aussichtslosen Unternehmungen (Streiks, Gewalttätigkeiten gegen Behörden, Putschversuche usw.) abgehalten wird.

Sehr wichtig ist auch, daß die Beschränktheit in Arbeiterkreisen häufig zu unwirtschaftlichem Leben und einer Sorglosigkeit bezüglich der Zukunft führt, die in den meisten Fällen verhängnisvoll wird. Die hohen Löhne, welche der Arbeiter derzeit erzielt, verleiten ihn vielfach zu einer relativ luxuriösen Lebensweise, bei welcher die Ausgaben für geistige Getränke keine untergeordnete Rolle spielen. Der Alkohol übt zwar seine Anziehungskraft auch auf intelligentere Elemente aus, der beschränkte Arbeiter verfällt derselben jedoch zweifellos leichter; er wird auch durch die Wirkungen des Alkohols geistig erheblicher geschädigt als der Begabtere.

Wie der Stand äußert auch der Beruf Einfluß auf die Formen, in welchen uns die Dummheit entgegentritt. Die Berufstätigkeit gibt den Beschränkten Gelegenheit zur Enthüllung von Eigenschaften, die sie von ihren intelligenteren Berufsgenossen unterscheiden und sie z. T. zu einem besonderen Typus stempeln.

In den juristischen Beamtenkreisen bildet der verknöcherte Bürokrat einen solchen leider noch nicht ganz beseitigten Typus, der um so verhängnisvoller wirkt, je höher die Stellung ist, die er erlangt hat. Der geistige Horizont dieser Sorte von Staatschenern beschränkt sich auf die Erfordernisse ihrer amtlichen Stellung. Die Vorgänge in dieser Welt betrachten sie lediglich unter dem Gesichtswinkel letzterer. Allgemeinere und höhere Interessen kennen und berück- sichtigen sie nicht oder nur sehr wenig. Sie erachten es als ihre Aufgabe, lediglich mechanisch und handwerksmäßig Verordnungen und Gesetze anzuwenden, gleichgültig wie das Resultat ausfallen mag, ob sinnvoll oder widersinnig. Quod non in actis, non est in mundo, und fiat justitia, pereat mundus, sind ihre Leitsätze. Jede Neuerung oder Änderung auf dem Gebiet der Gesetzgebung, die sie nötigen könnte, ihr altes, ausgefahrenes Gedankengeleise etwas zu verlassen, ist ihnen entschieden verhaßt. Sie leisten daher allen Reformbestrebungen, welche ihre Amtstätigkeit berühren, so lange sie es vermögen, Widerstand. Nicht selten besaßen diese Bürokraten früher auch eine sehr übertriebene Meinung von ihrer Bedeutung im Staatsorganismus. Sie fühlten sich als Träger der Staatsgewalt erhaben über den gemeinen Bürger, den Untertan mit dem beschränkten Verstand, und ließen diesen auch im amtlichen Verkehr ihre amtliche Überlegenheit empfinden. Diesen Äußerungen bürokratischer Überhebung hat die Revolution ein Ende bereitet.

In der militärischen Hirarchie bildete der Gamaschenknopf das Seitenstück des verknöcherten Bürokraten. Es war dies eine Offiziersspezies, deren Gesichtskreis durch die Buchstaben des Reglements begrenzt war. Sie kannte nichts Höheres und Wichtigeres, als die peinlichste Anwendung der Dienstesvorschriften, inbesondere in Bezug auf die äußere Erscheinung des Soldaten, die Blankheit der Knöpfe etc. Sie trug daher auch kein Bedenken, die kleinsten Verfehlungen Untergebener mit unverhältnismäßigen Strafen zu ahnden. Noch während des Krieges übten Gamaschenknöpfe in den verschiedensten Stellungen ihre die Truppe schädigende sinnlose Tätigkeit aus; erfreulicherweise ist in unserer gegenwärtigen Heeresorganisation für sie keine Stelle geblieben.

Auch unter den Schulmeistern, speziell den Altphilologen, finden sich manche Exemplare, die in ihrer geistigen Artung den vorstehend erwähnten Typen nahestehen. Das große Maß klassischer Bildung, das sie eingesogen, die Überlegenheit an Kenntnissen, die sie ihren Schülern gegenüber allzeit besitzen, auch der Umstand, daß die Ansichten, die sie in der Schule vortragen, keinen Widerspruch finden, erzeugen bei ihnen den Dünkel, daß sie sich im Besitze besonders hochstehender, anderen Berufskreisen mangelnder Weisheit befinden. Mit diesem verknüpft sich die törichte Anschauung, daß allein sie der Jugend höhere, d. h. klassische Bildung beizubringen imstande seien und die Intelligenz des Individuums nach seinen Leistungen in der Anwendung der Regeln der lateinischen und griechischen Grammatik sich bemesse. Auf die Realschulen und ähnliche Anstalten blicken diese gelehrten Herren wie auf Anstalten für Idioten herab1), und ein lateinischer oder griechischer Formfehler erscheint ihnen wie ein intellektuelles Verbrechen, das unter Umständen mit dem Sitzenbleiben, d. h. der Repetition der Klasse bestraft werden muß. Diese Herren haben keine Ahnung von der Verschiedenheit der intellektuellen Anlagen der Einzelindividuen und sind deshalb außerstande einzusehen, daß ein Talent für alte Sprachen auch sehr Begabten fehlen kann2) und die Befähigung zu wissen- schaftlichen Studien sich nicht nach dem Grade der Aneignung grammatikalischer Regeln bemessen läßt.

In den Kreisen der Theologen der verschiedenen Konfessionen repräsentieren die hyperorthodoxen, muckerischen Elemente einen hierher gehörigen, aber besonders widerwärtigen Typus, der durch die Kombination von Beschränktheit, Intoleranz und Zelotismus charakterisiert ist. Diese Gottesmänner blicken mit einem gewissen Dünkel auf die Angehörigen anderer Konfessionen herab, da sie allein im Besitze des wahren Glaubens sich wähnen. Religiosität und Sittlichkeit vermeinen sie durch die sonderbarsten und lächerlichsten Mittel fördern zu können. Im Interesse der Religiosität würden sie gern unsere und die alte klassische Literatur vernichten, Schiller und Goethe sind für sie nur Heiden, deren Werke man der Jugend möglichst vorenthalten sollte. Die sittliche Reinheit des Volkes muß nach ihrer Ansicht durch Verhüllung alles Nackten in der Kunst und alles auf das Geschlecht Hinweisenöen gefördert werden. Von dieser Seite wurde beispielsweise die Entfernung des Bildes der Königin Luise aus den Schulzimmern beansprucht, weil diese tapfere Frau von dem Künstler etwas dekolletiert dargestellt ist3).  

 

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1) Wenn der Verfasser des "Publius" einen intelligenten Philologen, dem geraten wird, seinen im Latein unzulänglichen Sohn in eine Realschule zu schicken, in die Worte ausbrechen läßt: "Ich soll mein Kind in eine Idiotenanstalt geben," so ist dies nicht etwa bloß eine scherzhafte Übertreibung, es entspricht dies ganz und gar einer Ansicht, die in den Kreisen der Altphilologen manche Vertreter besitzt.

2) Es sei hier erwähnt, daß z. B. Böcklin im Latein am Gymnasium so wenig leistete, daß er eine Klasse zweimal absitzen mußte und ihm der Rat erteilt wurde, auf den Gymnasialunterricht zu verzichten.

3) Ein Seitenstück hierzu wurde aus Jena berichtet. Dort hat der Religionslehrer einer höheren Töchterschule in einer Klasse die Religionsbücher eingesammelt und zum Gaudium der Schülerinnen die auf den Vignetten befindlichen zarten Engelsgestalten durch feine Striche mit einer Art Badehose versehen.


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