[Literarische Belege der Urteilsschwäche Intelligenter.]


Die gelegentliche Urteilsschwäche Intelligenter äußert sich auf allen Gebieten menschlicher Geistestätigkeit. Wir werden uns damit noch an späteren Stellen zu beschäftigen haben. Hier wollen wir nur an einigen Beispielen zeigen, welchen Blödsinn Personen, denen ein gewisses Maß von Intelligenz nicht abzusprechen ist, zu leisten imstande sind. Ende der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts erregte die unter dem Titel "Rembrandt als Erzieher" publizierte Schrift eines anonymen Autors viel Aufsehen in Deutschland; sie führte auch zu einer Fülle von Erörterungen in der Tagespresse und in Broschüren, welche den in der Schrift enthaltenen Ansichten zum Teil zustimmten, zum Teil sehr entschieden entgegentraten. Der Autor des Buches (ein Philologe) ist zweifellos ein gebildeter und intellektuell wohlbegabter Mann. Doch trägt schon der Titel seines Buches einen exquisit schwachsinnigen Charakter. Wenn der Autor über die Persönlichkeit und das Leben Rembrandts sich genügend informiert hätte, so müßte er wissen, daß der geniale Künstler ein Mann von keineswegs einwandfreiem Charakter war, woraus er, dies sollte man wenigstens glauben, hätte folgern müssen, daß die Idee, denselben der deutschen Nation als Vorbild zu empfehlen, geradezu eine Ungeheuerlichkeit darstellt1). Von den zahlreichen schwachsinnigen Äußerungen, die man in der Schrift neben manchen treffenden Bemerkungen findet, seien hier nur folgende angeführt:

"Eine höhere Weltanschauung kennt weder innen noch außen, sondern nur die Mitte, das Leben."

"Im Bauer begegnet sich das irdische mit dem himmlischen, das äußere mit dem inneren Leben des Menschen, der König mit dem Künstler."

"Rembrandt der bäuerliche und königliche Künstler ist in seiner Art ein eherner Fels, ein fester, unverrückbarer Punkt, an dem sich die deutsche Volksseele zu neuen und schöneren Gestaltungen ihrer selbst ankristallisieren kann."

Die an Rembrandt sich ankristallisierende deutsche Volksseele, welch ein herrliches Bild!

"Das Wissen erzeugt Pygmäen, der Glaube erzeugt Heroen. Kunst ist Subjektivität und Subjektivität ist Glaube."

"Erst dann ist ein Ding vollkommen, wenn es das Gegenteil von sich selbst ist; das ist eine Zwielichts-weisheit; aber im Zwielicht denkt man am besten."

"Die Giganten haben ihre Schlangenfüße: aber auch diesen ist die deutsche Kraft gewachsen."

Unter den polemischen Schriften, zu welchen die Möbius'sche Abhandlung: "Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes" den Anstoß gab, figuriert eine von Freimann: "Über den physiologischen Stumpfsinn des Mannes". Die Schrift ist zweifellos von einer Dame verfaßt, der man Bildung und Intelligenz nicht absprechen kann. Und doch leistet die Autorin, die auf die Mediziner im Allgemeinen und auf Möbius im Besonderen sehr schlecht zu sprechen ist, folgende Sätze:

"Die medizinische Wissenschaft lehrt die "Kunst" als Mensch wie das Schwein leben zu können."

"Die Wollust ist in der medizinischen Wissenschaft das Zeichen der Gesundheit."

"Fortschritte haben die Mediziner auf keinem einzigen Gebiete erzielt."

"Unter den freilebenden Tieren kommen keine Krankheiten vor."

"Die Arznei ist für den Kranken, nicht für den Gesunden", sagt Möbius. Hier zeigt sich deutlich wie unfähig zu logischem Denken die Ärzte sind. Da die Arznei dem Gesunden schadet, so muß sie dem Kranken, dessen Organismus so wie so schon geschwächt ist, erst recht schaden."

"Der größte Teil der medizinischen Wissenschaft ist Blödsinn und der Rest ist aus der Naturheilkunde geliehen."

"Je mehr Mediziner es gibt, um so schlimmer steht es mit dem Gesundheitszustand eines Volkes. Man kann geradezu sagen, die Ärzte sind schuld daran, daß die Kulturvölker und ihre Gesundheit so weit heruntergekommen sind."

"Der Mediziner weiß gar nicht, daß von der Erkältung als solcher keine Krankheit herrühren kann, denn die Erkältung ist streng genommen, ein Prozeß der Gesundung."

Wir müssen aus räumlichen Gründen darauf verzichten, diese Blütenlese fortzusetzen. Die Schrift zeigt in recht prägnanter Weise, welch haarsträubender Unsinn sich im Gehirn einer intelligenten Person festsetzen kann, wenn deren Denkvermögen durch Vorurteile und Leidenschaft beeinflußt ist.

Wenn wir das im Vorstehenden über die Urteilsschwäche intelligenter Individuen Angeführte überblicken, so können wir den Schluß nicht abweisen, daß die partielle von der allgemeinen Dummheit nicht durch eine tiefe Kluft getrennt ist. Was der Beschränkte leistet, ist durchaus nicht immer von minderwertigem, was der Intelligente produziert, nicht immer von vollwertigem Charakter. Der Beschränkte wird durch Unterricht, Übung, Erfahrung und Besonnenheit zu einzelnen Leistungen befähigt, die über dem Durchschnittsniveau seiner Begabung stehen; der Intelligente andererseits kann durch Mangel an Übung und Erfahrung, durch Affekte, Leidenschaften, Selbstüberschätzung und andere Umstände zu Leistungen gelangen, die seiner Gesamtbegabung nicht entsprechen.

 

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1) Vergleiche hierzu meine Schrift "Über die geniale Geistestätigkeit mit besonderer Berücksichtigung des Genies für bildende Kunst", 1903, Seite 80. Beispielsweise sei hier nur erwähnt, daß Rembrandt, nachdem er in Bankrott geraten war, sich zu Transaktionen von keineswegs ehrenhaftem Charakter herbeiließ, um sich Belästigungen seitens seiner nicht befriedigten Gläubiger zu entziehen, und daß er in seiner letzten Lebenszeit dem Trunke ergeben war.


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