[Die Frage der Normalität der Dummheit. Statistisches Material für die Entscheidung dieser Frage.]


Eine Frage, deren Beantwortung auf mannigfache Schwierigkeiten stößt, ist, ob die Dummheit noch in das Gebiet des geistig Normalen gehört. In dieser Beziehung weicht die populäre Auffassung von den Ansichten mancher Vertreter der Wissenschaft ab. Nach ersterer steht die Dummheit zwar an der Grenze zwischen den normalen Begabungsgraden und den in das Gebiet des Krankhaften gehörenden intellektuellen Zuständen (dem Schwachsinn), ohne jedoch über das Gebiet des Normalen hinauszureichen. Die häufige Charakterisierung einer Person als "gesund und dumm" gibt dieser Ansicht genügend Ausdruck. In der Wissenschaft ist die Auffassung der Dummheit als unterste Stufe der normalen Intelligenz keineswegs allgemein anerkannt. Manche Autoren sind eher geneigt, dieselbe als leichteste Form des Schwachsinns in das Gebiet des Pathologischen einzureihen, zumal ein Kanon für die normale Intelligenz nicht existiert. So bemerkt Möbius: Für die wissenschaftliche Betrachtung kann die landläufige Dummheit gerade so eine krankhafte Abweichung sein, wie abnorme Kleinheit oder Schwachsichtigkeit usw. Möbius weist auch darauf hin, daß die Sprache das Wort "dumm" bei krankhaften Veränderungen gebraucht, indem man sagt, er ist durch Trinken, durch eine hitzige Krankheit dumm geworden1).

Es ist vielleicht nicht ohne Vorteil, wenn wir nach statistischem Material für die Entscheidung der vorliegenden Frage suchen. Ein solches findet sich in der von Dr. Eyerich und mir veröffentlichten Arbeit "über die Beziehungen des Kopfumfanges zur Körperlänge und zur geistigen Entwicklung". (Wiesbaden, J. F. Bergmann 1905). Unter 935 Soldaten eines Regiments befanden sich 168 beschränkte, gleich 18%. Wenn man auch annimmt, daß diese Qualifikation in einzelnen Fällen unzutreffend war, so weist doch die Höhe des angeführten Prozentsatzes schon darauf hin, daß es sich dabei nicht um einen krankhaften Zustand handeln kann. Diese Auffassung wird noch durch den Umstand gestützt, daß ein großer Teil der Beschränkten aus Individuen mit ansehnlichem Kopfumfange, also wohlentwickeltem Gehirn (56 cm und darüber) sich zusammensetzte. Krone 2) fand unter 540 Schulkindern aus 40 Ortschaften Thüringens mit Einschluß von 7 schwachsinnigen 148 Geringbegabte, ein Prozentsatz, der über das von Dr. Eyerich und mir Ermittelte weit hinausgeht. Es geht wohl nicht an, von den Schulkindern einer Dorfbevölkerung, die in bezug auf gesundheitliche Verhältnisse keinen besonderen ungünstigen Einflüssen unterliegen, mehr als 1/4 als in geistiger Hinsicht krankhaft zu betrachten.

Sehr beachtenswert für die vorliegende Frage sind auch die Ermittlungen Röses über die Zensuren an einer Reihe von Schulen.

Unter 2805 Kindern der katholischen Schule in Dresden waren

60mitderI.Note(sehr gut)
1138,,,,II.,,(gut)
1537,,,,III.,,(genügend)
70,,,,IV.,,(ungenügend)

zensiert.

Die mit IV zensierten Schüler dürfen wohl selbst verständlich ohne weiteres als beschränkt betrachtet werden. Doch verdient zweifellos auch von denen mit III zensierten Schülern ein Teil gleichfalls diese Klassifikation. Wenn man annimmt, daß die Hälfte dieser Schüler sich in ihren Leistungen den mit II zensierten, die andere Hälfte sich den mit IV zensierten nähert und man letztere Hälfte als beschränkt betrachtet, so gelangen wir bezüglich des Prozentverhältnisses der beschränkten Schüler (838 unter 2805) zu einem Ergebnisse, das in auffälliger Weise mit den Ermittlungen Krones übereinstimmt.

Einfacher liegen die Verhältnisse bei den schulen, welche 5 Noten haben und die beiden Noten 4 und 5 als ungenügend bezeichnen. Hier dürften die mit diesen Noten zensierten Schüler sicher als beschränkt qualifiziert werden.

Unter 243 Knaben und Mädchen der Volksschule in Clingen waren

13mitderI.Note
51,,,,II.,,
109,,,,III.,,
51,,,,IV.,,
19,,,,V.,,

Unter 356 Knaben und Mädchen der Volksschule in Weissensee waren

25mitderI.Note
104,,,,II.,,
91,,,,III.,,
101,,,,IV.,,
35,,,,V.,,

Unter 1290 Knaben der Nordhausenschen Volksschule waren

47mitderI.Note
431,,,,II.,,
639,,,,III.,,
162,,,,IV.,,
11,,,,V.,,

Unter 1274 Mädchen waren

104mitderI.Note
367,,,,II.,,
617,,,,III.,,
158,,,,IV.,,
28,,,,V.,,

Aus den mitgeteilten Daten ergibt sich, daß in einzelnen Schulen das Verhältnis der beschränkten zu den besser begabten Schülern mit dem von Krone in Thüringer Landschulen Ermittelten übereinstimmt. In anderen Schulen hinwiederum ist die Zahl der als beschränkt zu betrachtenden Schüler eine geringere; doch beträgt dieselbe auch hier noch immer ungefähr 14%.

Der französische Psychologe Binet, welcher durch langjährige Bemühungen eine eigene, sehr wertvolle Methode der Intelligenzprüfung herausarbeitete, fand bei nach dieser Methode vorgenommenen Untersuchungen, daß 50% der Kinder das für ihr Alter anzunehmende Durchschnittsmaß von Intelligenz aufwiesen, 25% über diesem Durchschnitt und 25% unter demselben standen. Die Feststellung über das in der Schule erworbene Wissen, für welches neben der Intelligenz jedoch noch andere Faktoren, wie Fleiß, Aufmerksamkeit etc. in Betracht kommen, ergab ein hiermit übereinstimmendes Perzentverhältnis. Man darf wohl annehmen, daß die nach der Binet'schen Methode als intellektuell unter dem Durchschnitt stehenden Kinder, da eine scharfe Abgrenzung derselben nicht möglich ist, wenigstens in der großen Mehrzahl als beschränkt zu betrachten sind.

Nach Tredgold (Mental Deficiency, S. 141) sind die dummen (dull and backward) Kinder die am wenigsten Begabten unter der normalen Bevölkerung; sie sind eine zahlreiche Gruppe und das Perzentverhältnis derselben schwankt an verschiedenen Orten. In einigen Teilen Somersetshire's fand Tredgold 5%, in anderen 15—20% unter den die Schule besuchenden Kindern. Tredgold glaubt, daß sie zahlreicher in ländlichen als in städtischen Bezirken sind.

 

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1) Möbius: "Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes." 6. Aufl. Seite 12.

2) Krone: "Physiologische und pathologische Beobachtungen in der Dorfschule." Ärztliche Sachverständigen-Zeitung 1905, Nr. 13 (ref. Zentralblatt für Nervenheilkunde 1906, S. 923).  


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