[Die Möglichkeit intellektuellen Fortschritts nicht zu bestreiten. Die Erreichbarkeit dieses Ziels unabhängig von einer durch Vererbung erworbener Eigenschaften bedingten Zunahme der Geisteskräfte. Umstände, welche für diese Annahme sprechen.]


Wenn wir nunmehr zusehen, welche Schlüsse sich aus dem bisherigen Gang der intellektuellen Entwicklung der mitteleuropäischen Bevölkerung für die Zukunft ziehen lassen, so bedarf es nach dem im Vorhergehenden Dargelegten keiner langen Ausführung, daß wir zwar zu einem besonderen Optimismus keine Veranlassung haben, jedoch ebensowenig die Hoffnung auf weiteren intellektuellen Fortschritt der Massen aufgeben dürfen. Darauf können wir allerdings nicht rechnen, daß der gewaltige Faktor der Auslese durch Vernichtung der intellektuell Niederstehenden und Überleben der Intelligenteren, der in vergangenen Jahrtausenden für den intellektuellen Fortschritt von so großer Bedeutung war, in Zukunft in ähnlicher Weise wirksam sein wird. Die Bestrebungen, die intellektuell Schwächeren gegen die Stärkeren zu schützen, nehmen in allen Kulturländern stetig zu, und, obwohl auch gegenwärtig noch im Kampf ums ökonomische Dasein die überlegene Intelligenz gewöhnlich obsiegt, ist es doch sehr wahrsdieinlich, daß die intelligenteren Elemente der Bevölkerung weniger zunehmen, als die Minderbegabten, da erstere zumeist auf Beschränkung der Kinderzahl bedacht sind, was bei den letzteren viel seltener der Fall ist. Wir dürfen auch nicht erwarten, daß auf dem Wege der Rassenzüchtung ein intellektueller Fortschritt zu erreichen ist. Ich muß gestehen, daß ich alle Rassenzüchtungsideen, so wohlgemeint und fein ausgeklügelt sie auch sein mögen, doch nur als Utopien betrachten kann. Unter den sich Verheiratenden ist die Zahl derjenigen, die bei ihrer Gattenwahl sich durch den Gedanken von Rassenzüchtung oder Veredlung allein leiten lassen, so gering und wird wohl auch noch lange Zeit so gering bleiben, daß sie nicht ernsthaft in Betracht kommen kann.1)

Bei dieser Sachlage drängt sich zunächst die Frage auf: Ist unsere Hoffnung auf einen intellektuellen Fortschritt der Massen in absehbarer Zeit überhaupt begründet und läßt sich zur Herbeiführung desselben und damit zur wirksamen Bekämpfung der Dummheit etwas tun? In erster Linie haben wir hier zu berücksichtigen, daß auch, wenn wir eine Steigerung der intellektuellen Fähigkeiten auf dem Wege der Vererbung erworbener Eigenschaften für möglich halten, dieselbe doch nur im Laufe einer längeren Reihe von Generationen zustande kommmen kann. Wir dürfen deshalb auf diesen Faktor unsere Hoffnungen auf einen intellektuellen Fortschritt der Massen nicht stützen. Dieser kann vorerst nur von einer allseitigen Ausbildung der vorhandenen geistigen Fähigkeiten durch Anregung und Übung, sowie der Beseitigung aller entgegengesetzt wirkenden — verdummenden — Einflüsse erwartet werden. Die Berechtigung dieser Annahme ergibt sich aus zwei Reihen von Tatsachen.

So wenig befriedigend im Großen und Ganzen das geistige Verhalten der Massen gegenwärtig ist, so weisen doch manche Vorkommnisse darauf hin, daß in denselben etwas mehr Intelligenz vorhanden ist, als man nach ihrem Alltagsleben und Treiben vermuten möchte. Bis zum Ausbruch des Weltkriegs führte eine Reihe von Jahren die Bevölkerung verschiedener bayerischer und tirolischer Dörfer Theaterstücke auf, und manche dieser ländlichen Schauspielergesellschaften haben sich durch ihr natürliches und verständnisvolles Spiel einen Ruf erworben (so insbesondere die Schlierseer und Tegernseer). In den Städten ist es ebenfalls keine Seltenheit, daß in Arbeitervereinen das Theaterspielen kultiviert wird und dabei verhältnismäßig gute Leistungen zustande kommen. Bei dem Passionsspiel in Oberammergau, das sich einen Weltruf erworben hat, gehören die Mitwirkenden ebenfalls zum größten Teil dem Arbeiterstand an. Die intellektuellen Prozesse, welche die Einstudierung und Durchführung irgend einer dramatischen Rolle erheischt, sind wesentlich verschieden von den geistigen Leistungen, welche die Alltagsbeschäftigung des Bauern, des Handwerkers und des Industriearbeiters erfordert. Wenn auch der Bauer nur auf dem ihm naheliegenden Gebiet des ländlichen Volksstücks Gutes zu leisten vermag und der städtische Arbeiter ebenfalls nur in gewissen Stücken mit einfacher Handlung den Anforderungen der Darstellung in gewissem Maße gerecht werden kann, so zeigen doch diese Bespiele, daß in den Massen Fähigkeiten vorhanden sind, die in ihrem Alltagsleben sich nicht offenbaren, weil es an Gelegenheit zur Betätigung derselben fehlt. Auch manche andere Anzeichen, die Benutzung von Volksbibliotheken, das Interesse für belehrende Vorträge und Konzerte, die Beteiligung an Fortbildungskursen, an wirtschaftlichen und politischen Organisationen etc. sprechen dafür, daß in den Massen Geisteskräfte schlummern, die geweckt werden können und gewiß geweckt zu werden verdienen.

 

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1) Damit soll jedoch keineswegs behauptet werden, daß die Bestrebungen, der Rassenentartung durch geeignete Maßnahmen entgegenzuwirken, überflüssig oder zwecklos sind; das in dieser Richtung Wünschenswerte wird an späterer Stelle dargelegt werden.


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