[Mangel eines bestimmten Verhältnisses zwischen Kultur und Intelligenz einer Bevölkerung. Einfluß der Zunahme der Lebensfürsorge auf die Denktätigkeit. Verminderung dieses Einflusses nach Erreichung einer gewissen Kulturstufe.]


Wir ersehen aus dem Angeführten, daß aus einem gegebenen Kulturzustand nicht ohne weiteres auf die Intelligenz der Kulturträger sich Schlüsse ziehen lassen und ein bestimmtes Verhältnis zwischen Kultur und Intelligenz nicht besteht. Dies wird noch klarer werden, wenn wir den Einfluß einzelner Kulturelemente auf das geistige Leben einer Bevölkerung einer Prüfung unterziehen. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß die wichtigsten Kulturfortschritte der ältesten Zeiten einen sehr bedeutenden Einfluß auf die Denkoperationen der Menschen äußerten. Lippert hat in treffender Weise dargetan, wie mit der allmählichen Ausdehnung der Lebensfürsorge die geistige Tätigkeit und das geistige Vermögen des Menschen wachsen mußten. "Es müssen", bemerkt der Autor, "besondere Schwierigkeiten der Lebenserhaltung gewesen sein, welche den ersten Anstoß zu einer zeitlichen Erweiterung der Lebensfürsorge gaben. Eine Gliederung dieser Fortschritte können wir kaum vornehmen, ebensowenig aber lassen sich einige wesentliche Etappen derselben ganz übersehen. Einen solchen Abschnitt bildete die Bereitung von Werkzeugen und Waffen über den Gebrauch des natürlichen Steins und Stabs hinaus. Nicht nur, daß mit dem Gebrauch von Werkzeugen die ganze Denktätigkeit des Menschen eine neue Richtung erhalten mußte; vorzugsweise in der dem Gebrauch vorangehenden Bereitung derselben lag jenes Moment der Vorsorglichkeit über den Augenblick hinaus. Die Notwendigkeit, nach wechselnden Jahreszeiten mit merklicherem Abstand für den Schutz des Leibes zu sorgen, wurde die weitere Lehrmeisterin auf diesem Wege. Sorglos schwelgt der Naturmensch in dem Überfluss von Früchten in der kurzen Zeit ihrer Reife; auf einer höheren Stufe beginnt er Vorräte zu sammeln, Vorkehrungen für die Erhaltung der fruchttragenden Pflanzen zu treffen, aber noch liegt der mühsame Anbau solcher in weiter Ferne. Auch diese weit fortgeschrittene Sorge schreitet wieder mit den kleinsten Zeiträumen beginnend zur Umfassung immer größerer fort. Nur einjährige Früchte von kürzester Vegetationsdauer bilden die Versuchsgegenstände des ersten Anbaus; erst am anderen Ende der fortschreitenden Reihe steht der Weinstock und der Obstbaum, der eine vorausberechnende Fürsorge von Jahren erheischt. Der Stolz des Griechen, der auf den Anbau des Ölbaums wie auf eine große Kulturtat seines Volkes blickte, war berechtigt. Parallel läuft eine gleichmäßig fortschreitende Erstreckung der Fürsorge zur Gewinnung von Fleischnahrung. Der Natur der Dinge entsprechend wendet sich dieser Fortschritt nicht ebenso gleichmäßig der Schaffung von Vorräten zu. Nur die Schneefelder des äußersten Nordens haben den Eskimo die Eisbewahrung, der heiße Steingrund den Afrikaner die Fleischdörrung gelehrt. Der Indianer erschöpfte alle Fürsorge auf die Erbeutung des Fleisches, für dessen Bewahrung blieb ihm keine. Dagegen erstreckten Völker der alten Welt ihre Fürsorglichkeit über den Fund und die Jagd hinaus und erfanden die Hegung des lebenden Tieres, seine Nutzung zu vielfachen Zwecken. Jede dieser Stufen spannte die Kräfte des Menschen für eine immer längere Dauer vor das anfangs so leicht, dann immer schwerer belastete Gefährt der Lebensfürsorge; das menschliche Denken wurde immer weiter ab von den Gegenständen des Augenblicks geleitet, immer gewohnter, in selbständiger Tätigkeit mit Fernliegendem sich zu beschäftigen, der Wille gewöhnt, dem Antrieb von Vorstellungen zu folgen. Der Mensch mußte von Stufe zu Stufe ein anderer werden, nicht nur nach der Summe der erworbenen Fertigkeiten, sondern auch nach der Häufung seiner geistigen Fähigkeiten."

Ähnlich wie die fortschreitende Ausdehnung der persönlichen, mußte die Erweiterung der sozialen Lebensfürsorge, der Übergang von dem hordenartigen Zusammenleben zur Organisation eines primitiven Staatswesens und dessen weitere Ausbildung auf die geistigen Fähigkeiten des Menschen wirken. Es liegt nun aber nahe, daß, nachdem eine gewisse Kulturstufe (feste Wohnsitze, Ackerbau, Viehzucht, Verfertigung verschiedener Werkzeuge etc.) erreicht und damit für die Denktätigkeit eine ständige und ergiebige Anregungsquelle gewonnen war, die weiteren Kulturfortschritte die intellektuelle Entwicklung des Menschen nicht mehr in gleichem Maße zu fördern vermochten. Diese Fortschritte knüpften zumeist an Vorhandenes an und konnten daher die Denktätigkeit nicht mehr in neue Richtungen zwängen und das Urteilsvermögen nicht wesentlich erweitern. Für ihre Aufnahme und Verwertung genügten die alten Denkgleise, und so wird es verständlich, daß manche Erfindungen von größter Tragweite zunächst wenigstens ohne auffälligen Einfluß auf das geistige Leben der Massen blieben. Dies gilt beispielsweise für die Erfindung des Buchdrucks im 15., wie die des Telegraphs und Telephons im verflossenen Jahrhundert. Für diejenigen, welche die Kunst des Lesens sich angeeignet hatten, erheischte die Benutzung gedruckter Bücher keine neuen Fertigkeiten und für die Masse blieb der Buchdruck lange ohne direkten Nutzen, weil dieselbe zum größten Teil ohne Schulunterricht aufwuchs. Ähnlich verhielt es sich mit dem Telegraphen und Telephon in unserer Zeit. Jeder Bauer und jeder Arbeiter ist imstande, sich dieser so wichtigen Verkehrsmittel zu bedienen. Dies erheischt jedoch seitens der Betreffenden keine eigenartigen, ungewohnten Denkoperationen und konnte daher auch bisher auf die Intelligenz dieser Bevölkerungselemente keinen merklichen Einfluß ausüben.

Man darf nicht übersehen, daß wir geistig auf den Schultern unserer Vorfahren stehen und ohne die Kenntnisse, die von diesen überliefert wurden, die meisten Erfindungen und Entdeckungen nicht möglich gewesen wären, welche in neuerer Zeit zu Kulturfortschritten führten. Ähnlich verhielt es sich in früheren Jahrhunderten. Das gewaltige Anwachsen des Wissens in neuerer Zeit ist andrerseits eine natürliche Folge des Umstands, daß die wissenschaftliche Beschäftigung eine ungeheuere Ausdehnung gewonnen und dabei die Arbeitsteilung immer größere Fortschritte gemacht hat. Während früher ein Gelehrter das gesamte Gebiet der Naturwissenschaft sich anzueignen vermochte, ist gegenwärtig der tüchtigste Kopf kaum mehr imstande, eine einzige naturwissenschaftliche Disziplin (Chemie, Physik etc.) in allen ihren Zweigen gleichmäßig zu beherrschen. Eine der Mehrung unseres Wissens entsprechende Steigerung unserer geistigen Fähigkeiten anzunehmen, hierfür besteht keinerlei Veranlassung.

Die Arbeitsteilung, welche in der Wissenschaft mehr und mehr zu einer Spezialisierung der Leistungen der Einzelindividuen führte, hat sich im Bereich des Handwerks und der Industrie schon lange in weitgehendem Maße vollzogen. Mit den Fortschritten unserer Kultur auf technischem Gebiet hat die Großindustrie bekanntlich das Handwerk mehr und mehr absorbiert und eingeengt. Während der gewerbliche Arbeiter früher eine Mannigfalt von Gegenständen erzeugte, ist er jetzt schon häufig darauf beschränkt, einen einzelnen Artikel herzustellen, und dem Fabrikarbeiter fällt oft nur die Herstellung eines Teiles eines Artikels zu. Dementsprechend sind auch die geistigen Operationen, welche die gewerbliche und industrielle Tätigkeit erheischt, in manchen Beziehungen begrenzter und einfacher geworden. Wenn wir weiter berücksichtigen, daß gegenwärtig nicht nur die Teilung der Arbeit, sondern auch die Vervollkommnung der Werkzeuge und des Materials dem Arbeiter manche geistige Anstrengung erspart und in Bergwerken und in industriellen Etablissements viele Tausende durch eine zwar überaus mühsame, aber zugleich durch ihre Einförmigkeit geisttötende Beschäftigung ihr Brot verdienen, so wird man zugeben müssen, daß die Fortschritte unserer Kultur auch ihre Schattenseiten haben und manches, was mit denselben zusammenhängt, statt geistig anregend zu wirken, eher geeignet ist, das intellektuelle Niveau gewisser Bevölkerungskreise herabzudrücken.

Außerdem kommt in Betracht, daß vieles von dem, was man zu den Fortschritten unserer Kultur zählt, eine Bedeutung für das geistige Leben nicht erlangen konnte. Hierher gehört alles, was lediglich der Erhöhung und Verfeinerung des Lebensgenusses dient, und alles, was lediglich auf Konvenienz beruht, die ganze Fülle von Äußerlichkeiten unserer Kultur. Die bequemere und hübschere Gestaltung der einzelnen Teile einer Wohnungseinrichtung, die Polsterung der dem Sitzen und Liegen dienenden Möbel, die Vermehrung des Tafelgeräts, die Verbesserung der Speisenzubereitung und die größere Abwechslung in den Bestandteilen der einzelnen Mahlzeiten, die größere Mannigfaltigkeit der Kleidung beider Geschlechter, dies alles sind schätzenswerte Dinge, aber einen fördernden Einfluß auf die intellektuellen Vorgänge kann man denselben nicht zuschreiben. Es sei, um ein auffälliges Beispiel anzuführen, hier nur erwähnt, daß in Deutschland erst im 16. Jahrhundert der Gebrauch der Gabeln aufkam und man sich vorher beim Essen zumeist der Finger bediente, da auch der Besitz von Messern gering war, während wir gegenwärtig nicht nur bei den einzelnen Gängen einer Mahlzeit die Bestecke wechseln, sondern auch für die verschiedenen Speisen besonders geformte Bestecke und Löffel benützen. Man kann jedoch nicht behaupten, daß der Gebrauch dieser Mannigfalt von Tischgeräten einen die Intelligenz steigernden Einfluß ausübt, und das gleiche gilt für die Verschiedenartigkeit der Toiletten, welche die Damen und Herren unserer Gesellschaft bei verschiedenen Gelegenheiten tragen und auf die von vielen Seiten so großes Gewicht gelegt wird. auch manche an sich bedeutungsvolle kulturelle Fortschritte auf sozialem Gebiet haben das intellektuelle Niveau der Massen unverändert gelassen, so die Kranken- und Unfallversicherung, die Vermehrung der Krankenanstalten und anderer charitativer Einrichtungen.

Wir ersehen auch aus dem Angeführten, wie wir schon an früherer Stelle bemerkten, daß man aus der Höhe einer Kultur nicht ohne weiteres Schlüsse auf die Intelligenz ihrer Träger ziehen darf. Die Fortschritte, welche die Kultur eines Volkes aufweist, beruhen nicht lediglich auf erhöhter geistiger Produktivität desselben — sie können auch von außen übernommen sein — und wirken andrerseits auch nicht immer förderlich auf das intellektuelle Niveau der Massen.

 

 

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