[Die Abderiten der Gegenwart.]


Ja diese edlen Abderiten finden sich auch bei uns noch in recht zahlreichen und wohlentwickelten Exemplaren, und zwar in allen Gesellschaftskreisen und in den verschiedensten Stellungen. Sie bekunden ihre Geistesartung weniger durch originelle Torheiten, als dadurch, daß sie die Beschränktheit ihres Horizonts und ihr verschrobenes Urteil bei öffentlichen Angelegenheiten möglichst zur Geltung zu bringen suchen. Dabei sind sie beflissen, ihr Vorgehen der Zeit und den örtlichen Verhältnissen anzupassen.

Vor der Revolution kleidete sich das Abderitentum, namentlich in den kleineren deutschen Staaten, vielfach in das Gewand des Patriotismus, den man durch Servilismus zu betätigen glaubte. Man bereitete z. B. den gelegentlich einer Besichtigung oder eines Besuchs durchreisenden Landesherrn durch Schmückung der Straßen, Ansprachen etc. einen Empfang, als ob es sich um die Begrüßung nach einem siegreichen Feldzug handle. Dieser Art von Patriotismus, dem zumeist tiefergehende Gefühle der Verehrung oder Anhänglichkeit an den Landesherrn nicht zugrunde lagen, wurde durch die Revolution der Boden entzogen. Letztere hat uns dafür eine Art Ersatz in jener Sorte von Spießbürgern gebracht, welche der neuen Ordnung der Dinge sich nicht bloß fügen, sondern sie durch möglichst radikale Allüren förden zu müssen glauben.

In ganz besonderem Maße hat sich das Abderitentum seit dem Krieg auf dem Gebiet der Volksernährung gezeigt. Was an verkehrten Maßnahmen da nicht nur von Privaten und Kommunalverbänden, sondern auch von Zentralstellen geleistet wurde, bildete den Gegenstand endloser Zeitungserörterungen, durch welche wenig gebessert wurde. So wurde um eine Hebung der Valuta herbeizuführen, mehrfach die Ausfuhr von Nahrungsmitteln (Zucker, Spargel und andere Gemüse) in neutrales Ausland gestattet, von wo sie den Engländern zugeführt wurden. Unsere Valuta wurde hierdurch nicht gebessert, aber die Unterernährung unserer Bevölkerung durch die Entziehung der fraglichen Nahrungsmittel gefördert. Eine süddeutsche Regierung hatte energische Maßnahmen behufs Herabsetzung der Lebensmittelpreise angeordnet; kurz hernach erlaubte sie die Ausfuhr großer Obstmengen nach Norddeutschland, während sie zugleich die Einfuhr von schweizerischem Obst verbot. In den benachbarten süddeutschen Staaten war umgekehrt die Ausfuhr von Obst verboten und die Einfuhr desselben gestattet. Im ersteren Lande war natürlich ein starkes Ansteigen der Obstpreise die Folge.

Auch auf dem Gebiet des Schulwesens und der öffentlichen Moral hat das Abderitentum sich sehr breit gemacht und tut es zur Zeit noch. Ich kann z. B. den Kampf gegen die Simultanschulen, der mit so viel Eifer bei uns geführt wurde, nur als eine Äußerung abderitischer Geistesverfassung betrachten, da der Unterricht in allen Schulgegenständen, abgesehen von der Religionslehre, eine konfessionelle Modifikation nicht zuläßt und für den Religionsunterricht auch in den Simultanschulen genügend gesorgt ist. Als Apostel der wahren Sittlichkeit haben die Abderiten bisher manches geleistet, was die Heiterkeit Unbefangener erregen mußte. Sie verlangen die Bekleidung oder Entfernung gewisser Kunstwerke in Galerien oder an öffentlichen Orten, die Beseitigung gewisser harmloser Stellen in Gedichten aus den Schulbüchern, die Untersagung öffentlicher Vorträge oder von Schauspielen, in denen Ideen vertreten werden, die ihren beschränkten und verknöcherten Sittlichkeitsbegriffen zuwiderlaufen. Sie ziehen gelegentlich selbst gegen rein wissenschaftliche Theorien zu Felde und insbesondere ist die Deszendenztheorie ihnen ein Dorn im Auge. Ihr Abderitenstolz empört sich gegen die Abstammung von einem affenähnlichen Vorfahren und sie möchten den Verkündern solcher Lehren am liebsten Maulkörbe anhängen oder sie von den Lehrkanzeln entfernen.

 

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